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Organspende: Meyer rät
Die anderen im Auge haben

Ich will meine Organe nicht spenden. Das ist irrational, aber bin ich deswegen ein schlechter Mensch?
Publiziert: 16.05.2020 um 12:55 Uhr
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Aktualisiert: 03.01.2021 um 12:33 Uhr

Kein schlechter, aber vielleicht einer, der sich, zumindest in dieser Frage, etwas zu wichtig nimmt. Indem Sie Ihre Organe spenden, retten Sie Leben und lindern Leiden. Aber offenbar gewichten Sie diesen unbestreitbaren Gewinn geringer als die Unversehrtheit Ihres künftigen Leichnams. Das ist in der Tat irrational und eben auch ziemlich eitel. Als würden Sie Ihr Auto zu Schrott fahren und darauf bestehen, dass keiner das noch perfekt funktionierende Navi ausbaut – allein aus dem Grund, dass gefälligst niemand Ihr Auto zu betatschen hat.

Vermutlich ist Ihnen noch nicht in Gänze bewusst geworden, dass der Tod kein Unglück ist, das nur Pechvögel trifft, sondern auch Ihr Schicksal sein wird. Sie werden sterben. Es wird garantiert geschehen. Und ob Sie nun an eine geistige Existenz danach glauben oder nicht – Ihr Körper wird für Sie definitiv keinen Nutzen mehr haben. Für andere aber schon, und Sie sollten in dieser Frage jene Menschen im Auge haben, nicht sich selbst. Zumal es hier ja nicht um einen kruden Zerteilungsvorgang wie im Schlachthaus geht, sondern um eine
würdevolle Operation. Indem Sie aber verlangen, dass Ihr künftiger Leichnam quasi unbeschadet entsorgt wird, unternehmen Sie einen ausgesprochen untauglichen Versuch, Unsterblichkeit zu erlangen. Ja, man wird Sie intakt beerdigen oder verbrennen – und jetzt? Verschafft Ihnen dieser Gedanke wirklich Gefühle von Frieden und Freude?

Erlangen Sie diese nicht eher, indem Sie hier und heute ein Mensch sind, an den man sich später gern erinnern wird? Indem Sie ein Leben führen, das Ihnen und anderen jeden Tag zur Seligkeit gereicht? Ist das nicht das grösste und schönste Vermächtnis, das Sie sich selbst errichten können? Und das Sie krönen, indem Sie eben doch verfügen, dass Ihre Organe gespendet werden dürfen.

Schriftsteller Thomas Meyer.
Foto: Thomas Meier
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