Milena Moser
Was wir wert sind

Selten habe ich so viele Zuschriften bekommen wie nach der letzten Kolumne. Nicht nur, weil man mir gute Besserung wünschen wollte (danke!), sondern weil die Frage, ob wir nur dann etwas wert sind, wenn wir auch funktionieren, offenbar einen Nerv getroffen hat.
Publiziert: 11.04.2022 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 10.04.2022 um 11:58 Uhr

Nicht wenige Zuschriften bestätigten diesen seltsam entrückten und massiv verlangsamten Zwischenzustand während der Erkrankung und teilten auch die unbestimmte Erleichterung, die damit einhergeht. Es hat etwas beinahe Befreiendes, wenn man keine andere Wahl hat, als sich hinzugeben. «Einfach nur sein», beschrieb es eine Leserin. Nur sein, ohne etwas zu leisten oder zu beweisen, ohne zu funktionieren. Denn das ist nicht vorgesehen, das ist nicht möglich. Die erste Frage, die uns in sozialen Zusammenhängen gestellt wird, ist nicht «Was hast du letzte Nacht geträumt?» oder «Wer war deine erste Liebe?» sondern: «Und du, was machst du so?» Was, wenn wir auf diese Frage mit «Nichts» antworten könnten? «Ich mache nichts, ich bin einfach.»

Vielleicht, als wir noch ganz klein waren. Vielleicht, wenn wir Glück hatten, war es tatsächlich einmal genug, dass wir einfach da waren, mit den Füssen strampelten und zahnlos lachten. Manche von uns mussten allerdings von Anfang an etwas beweisen, Ansprüche und Wünsche erfüllen: Länger schlafen, weniger schreien, schneller aufstehen. Hübsch aussehen, keinen Ärger machen. Aber manche von uns haben diesen seligen Zustand erlebt, in dem es genug ist, einfach zu sein. Die Erinnerung daran lebt noch in uns, und die Sehnsucht danach.

«Jetzt vermisse ich diesen Zustand fast», schrieb denn auch jemand. Andere, nicht wenige, fassten diese Sehnsucht in Worte, formulierten den auf den ersten Blick widersinnigen Wunsch, es möge sie auch erwischen. Aber so richtig, sodass es kein Durchhalten und Zähnezusammenbeissen mehr geben kann. «Ich kann mir das gar nicht leisten, ich muss einfach funktionieren ...»

Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Im Februar erschien ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».

Einmal, es ist lange her, besuchte mich ein Versicherungsberater. Viel ist von dem Besuch nicht hängen geblieben, ich erinnere mich vor allem daran, dass wir die Möglichkeit einer Lohnausfallsversicherung besprachen, eine Art Sicherheitsnetz für die auf dem Hochseil der Selbständigkeit Balancierenden. Ich dachte, das brauche ich nicht: «Ich kann doch immer schreiben», behauptete ich trotzig. «Auch, wenn ich krank bin.» So arrogant war ich einmal! Was, wenn das eines Tages nicht mehr so wäre? Wer wäre ich, wenn ich nicht schreiben könnte? Das konnte ich mir damals gar nicht vorstellen, und wenn ich ehrlich bin, kann ich es auch heute nicht. «Und du, was machst du so?» – «Ich schreibe.»

Als Victor sich von seinen Operationen erholte, verlangsamte sich unser Alltag noch mehr. Oft lag ich einfach an seiner Seite, ein Kissen auf dem Bauch, den Laptop gegen die angezogenen Knie gelehnt, und schrieb. Während er Musik hörte oder malte oder schlief. Die Katzen lagen zusammengerollt zwischen unseren Füssen oder kuschelten sich gegen seine Seite, wo die Wunde des Thoraxkatheters noch schmerzte. So vergingen Tage. Unterbrochen von Mahlzeiten und Filmen, von angefangenen, eingeschlafenen und weitergeführten Gesprächen. Manchmal hatte ich das Gefühl, aus der Welt gefallen zu sein. Ich erinnerte mich durchaus an die Hektik und die Dringlichkeit vor unserer Tür, aber sie schien weit weg, sie ging uns nichts mehr an. Und in diesen Momenten war ich auf eine verquere Art dankbar für die Umstände, seine gesundheitlichen Einschränkungen, die mir, vielleicht zum ersten Mal, genau diese Erfahrung ermöglichten: Einfach zu sein.

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