Milena Moser
Victor und die deutsche Anthropologin

Einer der Lieblingswitze meines Mannes berührt mich immer ein wenig unangenehm. Macht mich leicht betroffen, stellt mich in Frage, stellt mir Fragen. Wo verläuft die Grenze zwischen echtem Interesse für eine andere Kultur und übergriffiger Aneignung?
Publiziert: 29.08.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 27.08.2022 um 13:35 Uhr
Milena Moser

Was weiss ich persönlich über Kulturraub? Ich weiss nichts. Meine Kultur war nie bedroht, nie verboten, nie unterdrückt. Und so viel ich weiss, auch nie in Gefahr, geraubt zu werden. Wenn Touristen von anderen Kontinenten im Heidiland ein Sennenchutteli kaufen, fühle ich mich nicht persönlich betroffen. Es hat nichts mit mir zu tun. Wenn ich deshalb gefragt werde, was ich zur aktuellen und andauernden Kulturraubdebatte meine, sage ich: «Nichts.» Ich weiss zu wenig, um etwas Gescheites beizutragen.

Allenfalls hätte ich eine Frage: Haben sich Menschen aus dem beraubten Kulturkreis dazu geäussert? Oder ist es wieder mal nur ein Streit unter Weissen darüber, was Nicht-Weissen zuzumuten ist, was sie denken und fühlen? Etwa so wie der seit ein paar Jahren akzeptierte Begriff Latinx für Menschen aus Mittel- und Südamerika. Ein Begriff, den 90 Prozent der damit Bezeichneten selbst nicht brauchen, und zwar keineswegs wegen dem geschlechtsneutralen -x, sondern weil er sie alle in einen Topf wirft. Ob jemand aus Kuba stammt oder aus Guatemala, aus Mexiko oder Nicaragua, ist Hans was Heiri, ist alles Latein. Der Begriff wurde ihnen ausserdem von weissen Akademikern aufgepappt. Victor hörte ihn zum ersten Mal vor vier oder fünf Jahren, als er gebeten wurde, an einer Gruppenausstellung im Büro des kalifornischen Senators teilzunehmen, die «die Latinx-Kunst repräsentiert».

«Oh je», sagte er. «Das tut mir leid, ich male nicht mit Latexfarben, aber ich habe Acryl und Aquarell ...» Dass ich, behütete Schweizerin, dem politisch engagierten, indigenen Mexikaner den Begriff erklären musste, sagt eigentlich schon alles.

Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Im Februar erschien ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography

Aber klar, das Thema beschäftigt mich, ich bin jeden Tag damit konfrontiert. Victors Kultur ist mir komplett fremd, ich wusste rein gar nichts über sie, als wir uns kennenlernten. Seither habe ich so viel gelernt, so viel profitiert. Die mexikanische, mehr noch die toltekische Kultur inspiriert mich, sie öffnet mir neue Perspektiven und Horizonte. Sie hat meine Sicht aufs Leben und den Tod verschoben, meine Welt bunter und freundlicher gefärbt.

Ich lebe mit ihr, aber ich würde nie behaupten, sie sei meine. Wo also verläuft die Grenze zwischen echtem Interesse für eine fremde Kultur und der Ausbeutung derselben?

Für Victor ist die Antwort klar: Die Grenze verläuft entlang des Respekts. Ausbeutung ist es dann, wenn es um Selbstüberhöhung geht, darum, sich wichtig zu machen, sich (manchmal im wörtlichen Sinn) mit fremden Federn zu schmücken.

Als wir letztes Jahr unsere Hochzeitsfeier nachholten, erhielten wir den Segen von zwei Commadritas, zwei Vertreterinnen Victors spiritueller Gemeinschaft. Er setzte dazu seinen Federschmuck auf, mit dem ich ihn nur auf Fotos von Zeremonien gesehen hatte. Ich wusste, dass er ihn vor mehr als vierzig Jahren aus selbst gesammelten Federn sorgfältig und über längere Zeit zusammengestellt hatte. Doch später, während der eigentlichen Feier, trug Victor seinen roten Strohhut mit dem Schweizer Pin.

Und was hat das jetzt mit der Anthropologin zu tun? Das ist Victors Lieblingswitz: «Wie setzt sich eine traditionelle indigene Familie zusammen? Aus Vater, Mutter, drei bis fünf Kindern, der verwitweten Grossmutter, der unverheirateten Grosstante, zwei Hunden – und einer deutschen Anthropologin.»

Darüber kann er stundenlang lachen. Während ich mich eher etwas ertappt fühle...

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