Milena Moser
Open House

Die Idee eines offenen Hauses hat mich immer fasziniert, aber was das wirklich bedeutete, war mir offensichtlich nicht ganz klar. Denn als sich dieser Wunsch erfüllte, war ich erst einmal irritiert.
Publiziert: 29.03.2021 um 06:55 Uhr
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Aktualisiert: 07.05.2021 um 16:12 Uhr
Milena Moser

Neulich hatten wir Besuch. Zum ersten Mal seit ich weiss nicht mal, wie lange. Richtigen Besuch, bei uns zu Hause, am zum Glück sehr grossen, von Victor selbst geschreinerten Tisch. Wir waren beide ganz aufgeregt. Victor kochte zwei Tage lang, und während er kochte, sang er. Es war lange her, dass ich ihn so glücklich gesehen habe. Und weil er nie jammert, wurde mir erst in diesem Moment klar, wie sehr ihm das gefehlt hatte. Besuch.

Nicht nur die engsten Freunde, auch die weiter entfernten, die neuen, die auf der Durchreise, die von früher und die von morgen. Die Menschen, die wir in den letzten dreizehn Monaten gesehen haben, kann man an den Fingern einer Hand abzählen. Wir trafen sie zum Spazierengehen, oder wir sassen in sicherem Abstand zueinander im Garten. Diese erzwungene Zweisamkeit musste ihm sehr viel mehr zu schaffen machen als mir. Ich mag intime Gespräche, und grosse Gruppen überfordern mich schnell. Doch Victor lebt anders. Wenn es nach ihm ginge, hätten wir keine Türen.

Schon während der Jahre, in denen wir «nur» befreundet waren, hatte mich fasziniert, wie ständig irgendwelche Leute ein und aus gingen und sich bei ihm ganz zu Hause fühlten. Als wir ein Paar wurden, wollte ich einmal wissen, wer eigentlich alles einen Schlüssel hatte. Victor zuckte nur mit den Schultern. «Keine Ahnung», sagte er. Die Frage verwirrte ihn. Zwanzig Jahre schwere Krankheit hatten das zur Notwendigkeit gemacht. Doch was das wirklich bedeutete, verstand ich erst nach ein paar Monaten, genauer, nachdem Victor den ersten längeren Spitalaufenthalt überstanden hatte. Ich hatte ihm gerade ein Krankenlager auf dem Wohnzimmersofa hergerichtet, als ich Schritte auf der Treppe hörte. Im nächsten Moment war das Zimmer voller Leute, die ich nicht kannte. Jemand machte sich am Herd zu schaffen, jemand anderes holte Bier aus dem Kühlschrank. Und ich hatte doch Suppe gekocht! Während der nächsten Tage riss der Besucherstrom nicht ab. Ich sah, wie glücklich Victor war. Und ich machte mir Sorgen: Sollte er sich nicht erholen, brauchte er keine Ruhe? Und dann brach die ansonsten nicht sehr stark entwickelte innere Hausfrau mit mir durch. «Könnten sie sich nicht wenigstens anmelden?», fragte ich entnervt. Victor schaute mich nur an.

Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser

«Anmelden?», fragte er vorsichtig nach. «Aber warum denn?»

«Na, weil, weil, weil …» Eben noch war es mir ganz offensichtlich erschienen. Doch jetzt fiel mir kein guter Grund dazu ein. Und dann sah ich plötzlich eine Seite aus einem uralten Tagebuch vor mir, in das ich mit sechzehn oder siebzehn geschrieben hatte, wie ich einmal leben wollte. Und da stand es, in meiner damals noch leserlichen Mädchenschrift: ein Haus voller Freunde, ein offenes Haus.

Ein Haus, in dem man sich anmelden muss, ist definitionsgemäss kein offenes.

«Vergiss es», sagte ich und meinte es auch so. Victor nickte erleichtert, und meine innere Hausfrau kuschelte sich zu einem mehrjährigen Winterschlaf ein, aus dem sie bis heute nicht aufgewacht ist.

«Wann kommt der Besuch?»

«In einer halben Stunde.»

Victor presste einen Berg Tortillas, genug für eine Schulkantine. Ich bügelte ein Tischtuch und holte die blau-weiss glasierten Servierschalen aus dem Schrank, die «für schön». Aufgeregt wie Teenager schauten wir immer wieder auf die Uhr.

Dann klingelte es.

«Kommt rein», rief ich. «Es ist offen!»

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