Milena Moser
Die Entdeckung der Langsamkeit

Seit zwei Jahren mache ich jede Woche einen Sonntagsspaziergang. Wie früher als Kind, nur ist dieses Ritual jetzt selbstgewählt, keine ungeliebte Pflichtübung, sondern etwas, worauf ich mich die ganze Woche freue. Auch wenn wir jede Woche langsamer unterwegs sind.
Publiziert: 18.07.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 16.07.2022 um 11:08 Uhr
Milena Moser

Der Heron Point Park liegt noch verlassen im Morgenlicht, als wir dort ankommen. Das kleine Naturschutzgebiet liegt mitten in einem etwas heruntergekommenen Industriequartier. Wo früher Kriegsschiffe gebaut wurden, nisten heute Reiher – daher der Name. Heron heisst Reiher. Und Reiher bringen Glück.

«Hoffentlich sehen wir heute einen», sagt meine Freundin Theresa. «Ich brauche etwas Glück!» Sie ist vor ein paar Tagen die Treppe hinuntergefallen und hat sich den Fuss verstaucht. Weit wird sie heute nicht gehen. Aber deshalb sind wir hier. Dieser kleine Park ist unser Erholungsweg, er ist kurz und flach und wunderschön.

Hier treffen wir uns, wenn wir uns keine längeren Wege zutrauen – und das kommt in letzter Zeit immer häufiger vor. Erst hatte ich Covid, dann sie. Dann brachte ich einen fürchterlich mühsamen Husten aus der Schweiz mit, und dann, eben, fiel sie die Treppe hinunter. Nach zehn Schritten setzt sie sich auf eine Bank und legt den Fuss hoch.

Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Im Februar erschien ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography

«Geh bis ans Ende des Piers und fotografier mir einen Reiher.»

Meine Freundin Theresa war immer sehr viel sportlicher als ich. Vor nicht langer Zeit hat sie noch an Stadtläufen teilgenommen, ist die steilen Hügel von San Francisco rauf- und runtergerannt. Zu Beginn unserer Sonntagstradition war sie es, die mich dazu motivierte, noch ein bisschen weiter zu gehen, ein bisschen länger, ein bisschen höher hinauf. Ich weiss auch noch, dass wir irgendwann feststellten, dass wir schneller gingen, keine Pausen mehr einlegen mussten. «Wir werden besser», beglückwünschten wir uns. Ha! Unterdessen kriechen wir wie Schnecken. Aber auch das kann sich ja wieder ändern.

Ich sehe keinen einzigen Reiher, aber ich schaue lange den Pelikanen zu, die unbeholfen ins Wasser stürzen. Es sieht aus wie ein ungewollter Sturzflug, eine Bruchlandung. Es hat etwas Slapstickartiges. Ich muss lachen, und dann wieder husten.

Als ich zur Parkbank zurückkomme, erklärt mir Theresa, dass sich Pelikane manchmal den Hals brechen, wenn sie im falschen Winkel ins Wasser eintauchen. «Die haben auch kein einfaches Leben.»

Genau das hat die Ärztin gesagt, die meine Lunge abhörte, meinen Blutdruck kritisierte und mich ermahnte, mich nicht zu vernachlässigen, was Angehörige von «gesundheitlich herausgeforderten Menschen» offenbar gerne tun. «Sie haben auch kein einfaches Leben», sagte sie zu mir.

«Sie verstehen nicht», antwortete ich. «Ich war in meinem ganzen Leben nie so glücklich wie jetzt.» Und das hat unter anderem durchaus damit zu tun, dass sich im Zusammenleben mit Victor sehr vieles relativiert hat. Oder eher, die Umstände haben meine Prioritäten zurechtgerückt. Ich befasse mich tatsächlich kaum mehr mit meinem eigenen Befinden – und empfinde das als Erleichterung.

Im Wissen, wie fragil das Leben ist, rege ich mich nicht darüber auf, dass ich im Moment keine Hügel erklimme, keine beeindruckenden Strecken zurücklege. Ich schaue den Pelikanen zu, die wieder und wieder auf der Wasseroberfläche aufklatschen, und helfe dann meiner Freundin von der Parkbank hoch. Sie nimmt meinen Arm, und dann drehen wir uns noch einmal um. Die Bucht liegt glitzernd im Morgenlicht, zwischen verrosteten Industriekranen und abstrakten Kunstinstallationen. Die Pelikane steigen auf und formieren sich in der Luft zu einem perfekten, eleganten V.

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