Meyer rät: Alle sind tätowiert
Welcher Aspekt eines Tattoos provoziert Sie?

Mir graut ob all der tätowierten Menschen. Warum hat das so inflationäre Ausmasse angenommen? Ist es eine Verzweiflungstat um Anerkennung? Oder einfach ein Zeitgeist, den ich mit meinen 54 Lebensjahren gelassen entgegennehmen muss?
Publiziert: 02.04.2022 um 18:12 Uhr
Thomas Meyer

Die Tätowierung hat in den letzten dreissig Jahren einen beeindruckenden Höhenflug erlebt. Nicht nur hinsichtlich der Verbreitung, sondern auch in Bezug auf die Qualität: Talentiertere Künstlerinnen und Künstler erschaffen heute mit besserer Ausrüstung die gelungeneren, kreativeren Werke. Das Stigma der Halbwelt hat die Tätowierung längst abgelegt, sie ist eine eigene, vielfältige Kunstform geworden und ausserdem ein blühender Wirtschaftszweig.

Warum Menschen sich tätowieren lassen, lässt sich nicht allgemein beantworten. Das von Ihnen vermutete Motiv der zwanghaften Anerkennungssuche dürfte eher selten sein, üblicherweise finden die Leute es ganz einfach schön, ihren Körper auf diese Weise zu schmücken. Warum Sie angesichts dessen von Grauen sprechen, ist interessant: Wieso löst der Anblick tätowierter Menschen eine so starke Emotion in Ihnen aus? Welcher Aspekt davon provoziert Sie? Sehnen Sie sich womöglich selbst insgeheim nach Anerkennung? Wir projizieren unsere eigenen Themen ja ganz gern auf unsere Umwelt – das könnte hier durchaus der Fall sein. Oder vielleicht fühlen Sie sich vom Leben ausgeschlossen? Oder schlicht alt? Die Frage, warum wir uns über etwas aufregen, ist immer einen Moment der ehrlichen Innenschau wert.

So oder so ist es mit 54 Jahren an der Zeit, die von Ihnen erwähnte Gelassenheit zu üben, sich also nicht aufzuhalten mit Dingen, die man zwar nicht versteht, die aber auch niemandem schaden. Allein die schiere Masse der Tätowierten nötigt Sie ja zur Coolness: Sie können nicht ausweichen, weder im ÖV noch bei der Arbeit und schon gar nicht im Sommer in der Badi. Akzeptieren Sie also die Entscheidung Ihrer Mitmenschen, vollgemalt herumzulaufen, und regen Sie sich, wenn schon, lieber darüber auf, dass sie überall ihren Müll liegen lassen.

Der niederländische Fussball-Nationalspieler Memphis Depay beim Länderspiel letzte Woche in Amsterdam gegen Deutschland.
Foto: IMAGO/ANP
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