Kolumne «Weltanschauung»
Freiheit und Nächstenliebe

In den Diskussionen um Sterbehilfe geht es fast immer nur um die Selbstbestimmung des Menschen. Anderes blenden wir aus, weil es unangenehm für unsere Gesellschaft ist.
Publiziert: 21.07.2019 um 23:02 Uhr
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Aktualisiert: 30.07.2019 um 16:37 Uhr
Der Churer Bischofssprecher Giuseppe Gracia verlässt das Bistum nach zehn Jahren Medienarbeit per sofort.
Giuseppe GraciaKolumnist

Ähnlich wie in den Berichten über die Ärztin Erika Preisig, die in Liestal eine psychisch Kranke in den Tod begleitet hat, drehen sich fast alle Debatten zur Sterbehilfe um die Frage, ob der Mensch sich selber töten darf – und ob es erlaubt ist, ihm dabei zu helfen. Selbstbestimmtes Sterben lautet die Devise.

Als liberaler Mensch stimme ich dem Grundsatz von Freiheit und Selbstbestimmung klar zu. Auf der anderen Seite ist es relativ unklar, wie frei und selbstbestimmt ein Mensch eigentlich ist, wenn er sich wünscht, morgen nicht mehr zu existieren. Besonders dann, wenn es sich um eine psychisch kranke Person handelt.

Angst vor dem «sozialen» Tod

Abgesehen davon finde ich es doch sehr auffällig, wie dominant die Frage der Selbstbestimmung ist, während kaum je die Frage diskutiert wird, warum Kranke sich eigentlich umbringen wollen. Denn wenn man einmal nach den Gründen dafür fragt, zeigt sich: In der Mehrheit der Fälle geht es um Angst vor Schmerzen und davor, anderen zur Last zu fallen. Ausserdem um Angst vor Einsamkeit, vor dem sogenannten «sozialen» Tod, der dem körperlichen Tod vorausgeht. Ein Phänomen, das in unserer Kultur weitverbreitet ist.

Giuseppe Gracia, Schriftsteller.
Foto: Thomas Buchwalder

Was die Schmerzen anbelangt, wäre aufgrund dieser Ursachenanalyse eine Verbesserung der Palliativmedizin angesagt. Mehr Geld, mehr Schmerzforschung, mehr Personal. Natürlich wird es auch dann noch Schmerzen geben, die keine Forschung wegbringt, trotzdem müssen wir alles tun, was möglich ist.

Wir entlasten uns moralisch

Komplizierter ist die Sache, wenn der Sterbewunsch in der Einsamkeit wurzelt. Das betrifft uns alle, das können wir nicht an Ärzte delegieren. Wenn Menschen einsam sind und keine Nächstenliebe erfahren, dann ist das auch ein Urteil über den Zustand unserer Zivilisation.

Sterbehilfe kann dann zur willkommenen moralischen Entlastung einer Gesellschaft werden, die einer Kultur der Optimierung und Beschleunigung verfällt. Einer Kultur ohne Raum für die Ohnmacht. Ohne Zeit für eine Liebe, die Einsamkeit lindern und mittragen kann.

Giuseppe Gracia (51) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.

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