Kolumne «Alles wird gut» über ein spezielles Jahrzehnt
Die traurigen Gesichter der 90er-Jahre

Das Jahrzehnt der Freiheit war auch ein Jahrzehnt des schrankenlosen Individualismus.
Publiziert: 25.09.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 24.09.2023 um 19:41 Uhr
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Ursula von ArxJournalistin und Buchautorin

Ach, die Neunziger! Kann es sein, dass der freiheitliche Exzess ins Reich der Weisheit führt? Zu Schönheit, Selbstbewusstsein, innerem Frieden? Oder doch eher in Entzugskliniken, zur Klimakatastrophe? Und als Gegenreaktion zu Populismus, Fundamentalismus? Nostalgisch blicken wir zurück, genährt von der Serie «The Super Models».

Die 90er-Jahre beginnen mit dem Gruppenporträt der angehenden Supermodels Naomi Campbell, Linda Evangelista, Tatjana Patitz, Christy Turlington und Cindy Crawford, in Szene gesetzt 1990 vom Starfotografen Peter Lindbergh für die britische «Vogue», und enden entsprechend 1999 mit dessen Porträt von Superpolitiker Gerhard Schröder für «Life & Style».

Dazwischen schien die Welt grenzenlos zu sein, McDonald's gabs jetzt, nach dem Fall der Berliner Mauer, auch in Moskau, und alle konnten reisen, wohin sie mochten, und sein, wo und wer sie mochten. Es war das «Jahrzehnt der Freiheit» (Jens Balzer), alle fühlten sich aufgerufen, ihre ganz eigene Individualität zu entdecken und diese kollektiv zu feiern. Jede Macke trug zur Besonderheit bei.

Ein legendäres Bild der 90er-Jahre: Naomi Campbell, Linda Evangelista, Tatjana Patitz, Christy Turlington und Cindy Crawford.
Foto: DUKAS

Talkgäste beichteten im Privatfernsehen ihre sexuellen Vorlieben, Selbstzweifel, Süchte und missglückten Schönheitsoperationen. Es war grosses, authentisch inszeniertes Drama. Und der Beweis, dass tatsächlich jeder Einzelne die Verantwortung für sein Glück oder Unglück selber trug: Denn konnte nicht jeder zu seiner eigenen Marke werden?

Für Arbeitslose war das vielleicht ein bisschen viel verlangt. Aber als Ich-AG könnten sie sich schon aufstellen, wie Deutschlands damaliger Bundeskanzler Schröder forderte, denn ein Recht auf Faulheit gebe es nicht.

Den Models aber gelang die Transformation. Wurden sie früher in erster Linie als lebendige Kleiderständer gesehen, so zeigten sie jetzt Persönlichkeit. Sie trugen nicht mehr Marken, sie waren selber welche: Christy Turlington, Cindy Crawford, Naomi Campell, Linda Evangelista. Wenn sie in schnellen Schritten über den Laufsteg schreiten mussten, damit eine lange Robe schöner wehte, konnte kein Zweifel aufkommen, worum es dabei ging: nicht um den Stoff, den sie trugen. Sie selbst waren der Stoff.

Und heute? Was aus den Supermodels von damals geworden ist, kann man auf Apple TV sehen. Es ist nicht nur schön. Sie sind gealtert, genau wie die Ideologie der 90er-Jahre, die Ideologie des schrankenlosen Individualismus. Alles wird gut.

Ursula von Arx mag den Glamour der 90er-Jahre. Und muss sich immer wieder selber mahnen, Freiheit nicht mit Egoismus zu verwechseln. Von Arx schreibt jeden zweiten Montag im Blick. 

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