«Geschichte, jetzt!»
Geben oder nichts geben? Zur Geschichte des Bettelns

Britta-Marie Schenk forscht als Professorin an der Universität Luzern zur Neuesten Geschichte. Historiker Daniel Allemann ist Spezialist für das Mittelalter und die Renaissance in Luzern. Gemeinsam verbinden sie historische Ereignisse mit der aktuellen Zeit.
Publiziert: 22.01.2023 um 18:22 Uhr
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Aktualisiert: 15.02.2023 um 15:25 Uhr
Britta-Marie Schenk und Daniel Allemann

Weihnachten ist vorbei. Die Bereitschaft, zu spenden und Bettelnden Geld zu geben, ebenfalls. Menschen, die um ein paar Franken bitten, bleiben jedoch. Und da tauchen sie wieder auf, die kleinen, fiesen Gedanken: Ich kann ja nicht jedem etwas geben, wo soll denn das hinführen? Unterstütze ich damit den nächsten Rausch oder gar die «Bettelmafia»? Und warum liegt das eigentlich in meiner Verantwortung – müsste nicht der Staat dafür sorgen, dass niemand betteln muss?

Alles ganz neu? Keineswegs! Moralische Selbstbefragung beim Geben hat Tradition, in erster Linie eine religiöse. Im Spätmittelalter wurde Armut zum christlichen Ideal – dank des Aufstiegs der Franziskaner und Dominikaner. Die sogenannten Bettelmönche waren auf dem Papier besitzlos. Aber sie hatten ein gewieftes Geschäftsmodell: Adelige und Bankiers konnten sich mit gewaltigen Geldsummen – «frommen Stiftungen» – ein reines Gewissen erkaufen. Dafür kümmerten sich die «Papierli-Armen» um das Seelenheil der tatsächlich bedürftigen Bettler.

Bettelnde wurden aber bald zur Gefahr für die öffentliche Ordnung stilisiert. Alle standen unter Generalverdacht, faule «Müssiggänger» zu sein. Schlimmer noch: Die betrügerischen «Vaganten», also umherziehende Bettler, würden Kinder rauben und für ihre Zwecke instrumentalisieren. Mit der Industrialisierung änderte sich vieles, die Vorurteile aber blieben: Wer bettelte, führte einen «liederlichen Lebenswandel» und wollte nicht arbeiten, dachte man. Um die Gefahr zu bändigen, stiftete das aufstrebende Bürgertum, was das Zeug hielt.

Stereotype Darstellung einer Bettlerfamilie in Sebastian Brandts «Narrenschiff», 1494 in Basel gedruckt.
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Radikaler zu und her ging es am Ende des Mittelalters, dort wurden Bettelverbote erlassen. «Bettelvögte» zogen in den Kampf gegen das «herrenlose Gesindel». Wer vor die Ortsgrenzen gezerrt wurde, kam noch glimpflich davon. Andere wurden zur Zwangsarbeit verurteilt oder gar ausser Landes geschafft – in die Galeerensklaverei auf dem Mittelmeer. Aber erst um 1800 wurde das Betteln zur Straftat. Wer bettelte, war nun kriminell – und wanderte in den Knast.

Kriminalisiert werden Bettelnde auch heute noch. In zahlreichen Kantonen gibt es Bettelverbote, die sich vor allem gegen das «organisierte» Betteln richten. Die Folge: Roma aus Osteuropa werden pauschal als Angehörige der «Bettelmafia» diffamiert. Die Diskrepanz von zähneknirschend akzeptierten heimischen Bettlern und geschmähten auswärtigen hat selbst eine lange Tradition. Denn gegen bettelnde Wirtschaftsflüchtlinge ging man schon im späten Mittelalter vor – nur waren die «fremden Fötzel» damals nicht Rumänen, sondern andere Eidgenossen.

Im 19. Jahrhundert wurde das individuelle Almosengeben zum Auslaufmodell. Wer Gutes tun und sich gut fühlen wollte, spendete nun an Vereine, die sich professionell um Bedürftige kümmerten. Das Geben wurde «outgesourct», das Neinsagen zur Bettlerin vor der Haustür als soziale Tat etikettiert, und das ruhige Gewissen gabs noch obendrauf. Was heisst das nun für uns – geben oder nichts geben? Wir empfehlen: Wenn Sie unsicher sind, geben Sie einfach jedem etwas.

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