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Editorial zu Europas Flüchtlingspolitik
Die grosse Flucht in den Betrug

Wegen der Eskalation des Bürgerkriegs in Libyen könnten bis zu einer Million Menschen versuchen, nach Europa zu gelangen. Vielleicht steckt ja Russland dahinter. Sicher aber ist: Die Menschen, vor denen sich Europa fürchtet, sind nicht einfach vom Himmel gefallen.
Publiziert: 20.04.2019 um 23:59 Uhr
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Aktualisiert: 21.04.2019 um 16:28 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Paul Seewer
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Die europäische Flüchtlingspolitik ist eine grausame Flucht in die Welt der Taschenspielerei.

Seit April 2016 ist das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei in Kraft. Brüssel zahlte Recep Tayyip Erdogan 6 Milliarden Euro, damit er die syrischen Flüchtlinge zum Verschwinden bringt. Was der türkische Präsident unter anderem gemacht hat: Er liess eine 828 Kilometer lange Grenzbefestigungsanlage zu Syrien bauen.

Wer das Bürgerkriegsland Syrien nicht längst verlassen hat, soll dies nun ganz bestimmt nicht mehr können.

Derweil vegetieren rund 15'000 Menschen – vorwiegend aus Afghanistan, Irak und Syrien –­­ in sogenannten Hotspots auf den griechischen Inseln Chios, Kos, Leros, Lesbos und Samos. Viele leben unter Plastikplanen, umgeben von Kehricht und Fäkalien. Das Lager auf Samos etwa, gebaut für 648 Personen, zählt gegenwärtig über 4500 Bewohner. Männer, Frauen, Kinder.

Und wie nennt Brüssel diese Hotspots? Einen «operationellen Erfolg».

Im Augenblick jedoch herrscht Nervosität in Europas Amtsstuben. Die Entwicklung in Libyen droht die grosse Taschenspielerei brutal zu entlarven. Der Schweizer Nachrichtendienst NDB warnt in einer Analyse: Wegen der Eskalation des dortigen Bürgerkriegs könnten bis zu einer Million Menschen versuchen, von Libyen aus übers Meer nach Spanien und Italien zu gelangen.

Beim Bund kursiert auch eine Theorie, warum das Thema gerade jetzt aufkommt. Demnach will Russland die Wahlen fürs Europäische Parlament von Ende Mai beeinflussen. So wie sich Moskau bereits in die Brexit-Abstimmung und in die US-Präsidentschaftswahl eingemischt hat.

Eine libysche Flüchtlingswelle als Wasser auf die Mühlen der Rechtsparteien in Europa?

Was in jedem Fall stimmt: Die Verantwortung für die aktuelle Gewaltorgie in Libyen trägt General Chalifa Haftar. Und dieser wird von Russland gefördert.

Ebenso wahr ist aber: Die vielen Menschen, die Europa fürchtet, sind nicht jäh vom Himmel gefallen. Die meisten stammen aus den Ländern südlich der Sahara und hängen grösstenteils seit langer Zeit in Libyen fest.

Denn wie die Türkei hat auch Libyen seinen Deal mit Europa. Die EU greift der Regierung in Tripolis finanziell unter die Arme. Im Gegenzug sorgen Libyens bedrängte Machthaber dafür, dass die Flüchtlinge und Migranten aus Subsahara-Afrika von der Küstenwache abgefangen und in Internierungslager geschafft werden.

Wie viele Gefangene es in diesen Lagern gibt, weiss niemand. Bekannt ist freilich, dass dort unmenschliche Zustände herrschen. Ehemalige Insassen sprechen von katastrophaler Überbelegung, sie sprechen von Hunger, von Folter, von Sklaverei.

Wenn an dieser Stelle immer nur von der EU die Rede ist: Wo steht unser Land? Nun, die Schweiz gehört zu den Sponsoren der libyschen Küstenwache. Sie hat die Ausbildung und Ausrüstung dieser Abwehrflotte gegen die Flüchtlinge mit einem Millionenbetrag unterstützt. Und von den griechischen Hotspots hat die Eidgenossenschaft exakt 579 Menschen aufgenommen. Mehr wollte der Bundesrat nicht – aus Angst, die Schweiz könnte ansonsten als allzu flüchtlingsfreundlich auffallen.

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