Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Macht die Pandemie die Menschen weniger egoistisch?

Mitten in der zweiten Corona-Welle befürwortet eine Mehrheit der Stimmenden eine Volksinitiative, die Menschen fernab helfen möchte. War die hohe Zustimmung zur Konzernverantwortungs-Initiative eine Folge der Pandemie?
Publiziert: 06.12.2020 um 11:15 Uhr
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Aktualisiert: 02.01.2021 um 16:25 Uhr

Eine Mehrheit hat Ja gesagt zur Konzern­verantwortungs-Initiative. Am Ende ist die Vorlage am Ständemehr zwar doch noch gescheitert. Darum soll es an dieser Stelle allerdings nicht gehen – obwohl es sich natürlich lohnen würde, auch diesen Aspekt zu ­vertiefen. Schliesslich wurde das ­Ständemehr 1848 ­eingeführt, um den Katholiken im neuen Bundesstaat etwas Minderheitenschutz zu bieten. Heute sind die ­Katholiken die grösste Glaubensgemeinschaft des Landes. Vor allem aber ist es so, dass sich just die Kirche für ein Ja am letzten Sonntag engagiert hatte. Sie wurde von eben jenem Ständemehr ausgebremst, das sie ursprünglich schützen sollte ...

Wirklich bedeutsam an den 50,7 Prozent für die Konzernverantwortungs-Initiative ist freilich etwas anderes. Die Vorlage machte die Lebensbedingungen von Menschen fernab der Schweiz zum ­Thema; sie stand damit in der ­Tradition der Dritte-Welt-Bewegung der 1970er- und 80er-Jahre. Früher ­waren solche Anliegen nicht ­ansatzweise mehrheitsfähig. Das Fressen kam hierzulande stets vor der Moral: Als die SP in den 1980er-Jahren per Volksinitiative die Abschaffung des Bankgeheimnisses forderte, votierten lediglich 27 Prozent dafür.

Ging es um das problematische Verhalten der Schweiz und von Schweizer Unternehmen in der Welt, passierte bis anhin erst dann etwas, wenn das Ausland Druck ausübte. Das Bankgeheimnis ­wurde namentlich auf Betreiben der USA abgeschafft. Und ohne die Hart­näckigkeit Washingtons hätten wir uns in den 1990er-Jahren nicht mit der Rolle unseres Landes zur Zeit des Zweiten Weltkriegs ­beschäftigt.

Keine Frage: Der Aufwand, den die Urheber der Konzernverantwortungs-Initiative betrieben, war gigantisch. Trotzdem ist ­bemerkenswert, dass es mitten in der zweiten Corona-­Welle zumindest für ein Volksmehr gereicht hat. Zu einer Zeit, da sich alle um die Wirtschaft sorgen.

Oder war die hohe Zustimmung am Ende gar eine Folge der Pandemie?

Die Corona-Krise setzt in unserer Gesellschaft widersprüchliche Kräfte frei. Im professio­nellen ­Politbetrieb herrschen derzeit ein Übermass an Hartherzigkeit und ein Mangel an Weitblick. Das Parlament hat diese Woche beschlossen, kleinen Geschäften keinen Mieterlass für die Zeit des Lockdowns zu ge­währen. Stattdessen folgt Bundesbern eisern dem Grundsatz: Man muss der Wirtschaft nur möglichst freie Bahn ­lassen, dann kommt alles gut – dann braucht es keine Mieterlasse, braucht es keine Staatshilfen. Dass in den letzten zwei Wochen 1117 Menschen an Covid gestorben sind und die Zahl der Ansteckungen nach wie vor enorm hoch ist, wird billigend in Kauf genommen.

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Umgekehrt gilt aber auch, was der bulgarische Philosoph Ivan Krastev beobachtet hat: «Das Coronavirus stärkt die Vorstellung, wenn nicht sogar die Tatsache, dass wir alle in derselben Welt leben.»

Die Frage stellt sich, ob es dieses neuartige Gefühl weltumspannender Verbundenheit war, das beim Votum zur Konzernverantwortungs-Initiative spürbar wurde. Kann es sein, dass die Pandemie bei massgebenden Poli­tikern zu Überforderung führt – bei sehr vielen Menschen ohne Mandat dagegen verstärkt zu Empathie?

Das wäre ein Trost. Und es wäre eine gute ­Voraussetzung für die ­klima- und umweltpolitischen Vorlagen, die 2021 vors Volk kommen, darunter das neue CO2-Gesetz. Denn auch im kommenden Politjahr braucht es an der Urne wieder Empathie statt kurzfristigen Egoismus.

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