Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Die Schweiz war nie das Land der Eigenverantwortung. Zum Glück!

In der Pandemie reden alle von Selbst- und Eigenverantwortung. Dabei haben diese Wörter bei uns kaum Tradition. Vor allem aber sind sie viel zu kaltherzig. Vielleicht bleiben die Appelle an Selbst- und Eigenverantwortung ja auch darum ohne die erhoffte Wirkung.
Publiziert: 03.01.2021 um 11:16 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick

Wenn sich Bundesrat und Kantonsregierungen bei ­ihren Corona-Massnahmen mit ­einem Minimum begnügen, begründen sie ihre Zögerlichkeit damit, dass sie vor allem auf Eigenverantwortung setzen. Auch FDP-Präsidentin Petra Gössi will die «Eigenverantwortung stärken», wie sie in ihrer Neujahrs­botschaft schreibt. Die CVP forderte zu Weihnachten «von allen noch einmal Eigenverantwortung». Und SVP-Nationalrat Albert Rösti sagte neulich in der «Arena»: «Wir sind ein Land von Eigenverantwortung.»

Selbst- und Eigenverantwortung sind das Mantra der Schweizer Pandemie-Politik. Doch was hat es damit auf sich? Ungeachtet der Gefahr, dass es staubig werden könnte: Der Gang ins Archiv lohnt sich!

Zunächst ein Blick in die «Neue Zürcher Zeitung», die publizistische Speerspitze des Schweizer Liberalismus. Der Ausdruck «Selbstverantwortung» taucht hier zum allerersten Mal 1896 auf – in einem Fortsetzungsroman («Selbstgerecht» des deutschen Autors Friedrich Spielhagen). Zum zweiten Mal im Jahr darauf, abermals in einem Fortsetzungsroman («Im Rosenhaus» der deutschen Autorin Margarethe von Sydow). Ein drittes Mal erscheint die «Selbstverantwortung» in der «NZZ» vom 20. März 1898: in einer­ Würdigung des norwegischen Schriftstellers Henrik Ibsen.

Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Paul Seewer

Kurz und gut: In der Schweiz ist die «Selbstverantwortung» zunächst ein Begriff aus der Welt der Fiktion. Die «Eigenverantwortung» wiederum ­hat ihre Premiere in der «NZZ» erst 1916, in der ungekürzt abgedruckten Predigt eines Militärpfarrers.

Anders in Deutschland: Dort werben liberale Ökonomen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für Selbstverantwortung. So rät der ­Verfasser des Buches «Volkswirtschaftslehre für das deutsche Volk» anno 1863 zur «Abschaffung der Armenunterstützung». Es habe sich gezeigt, dass ­«öffentliche Fürsorge die Selbst­verantwortung vermindert».

70 Jahre später reklamieren die Nazis die Selbstverantwortung für sich. In Hitlerdeutschland gibt es sogar ein «Amt für Soziale Selbstverantwortung». Dieses prämiert «nationalsozialistische Musterbetriebe» und organisiert den «Reichsberufswettkampf».

Nach dem Zweiten Weltkrieg propagieren neoliberale Ökonomen Selbst- respektive Eigenverantwortung, Milton Friedman etwa in den USA, Friedrich von Hayek in Amerika und Europa. Ab den 1970er-Jahren gewinnen diese Kritiker des Sozialstaats in den Ver­einigten Staaten mächtig an Einfluss, schliesslich wird Milton Friedman Berater von Prä­sident Ronald Reagan. In der Schweiz inspirieren sie die FDP zu ­deren ­Slogan für die Wahlen 1979: «Mehr Freiheit und Selbstverant­wortung, weniger Staat».

Mehrheitsfähig wird dieses Vokabular hierzulande aber erst in den 1990er-Jahren. Im Kampf für eine Politik der Deregulierung und Privatisierung machen Selbst- wie Eigenverantwortung nun allerdings beispiellos Karriere. Seit dem 1. Januar 2000 sind sie sogar offizielle Leitbegriffe der Eidgenossenschaft. Artikel 6 der an diesem Tag in Kraft getretenen neuen Bundesverfassung lautet: «Jede ­Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.» In der alten Bundesverfassung fand sich keine solche Passage. Dort war einzig von der Verantwortung der Beamten die Rede ...

Was lehrt uns diese Begriffsgeschichte? Bundesrat und Kantonsregierungen müssen sich bewusst sein, dass ihre Appelle an Eigen- wie Selbst­verantwortung keine altehrwürdigen helvetischen Tugenden beschwören. Diese Wörter haben bei uns nicht die Tradition, die man ihnen nachsagt. Vor allem aber sind sie viel zu kalt­herzig. Die Politik kann sich von Appellen allenfalls dann etwas erhoffen, wenn sich diese an die ­Empathie und Solidarität der Menschen richten.

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