Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Die Politik verwechselt «ver-antworten» mit «ver-sagen»

Unser Seuchenalltag ist belastend genug. Da darf die Politik nicht für zusätzliche Komplikationen und Verwirrung sorgen.
Publiziert: 26.10.2020 um 09:57 Uhr

Man braucht nicht einmal jemanden zu kennen, dem Covid-19 leibhaftig begegnet ist. Der tagelang um Luft gerungen hat und nun wieder übt, die Treppe hochzusteigen. Die Seuche zehrt dramatisch an den Nerven von uns allen – auch bei denen, die vom Virus bislang verschont geblieben sind.

Der Mensch ist ein Gewohnheits­wesen. Neurologen haben entdeckt, dass gut die Hälfte unserer täglichen Verrichtungen routinemässig und wie von allein abläuft. Wir müssen nicht jedes Mal darüber nachdenken, wie wir uns den Morgenkaffee brauen, die Zähne putzen, ins Büro kommen.

Die Routine vermittelt uns ein Gefühl von Sicherheit. Und sie lässt dem Bewusstsein ausreichend Kapazität für Situationen, die tatsächlich unsere Aufmerksamkeit
erfordern.

Seit ein paar Jahren weiss man, wo dieser Autopilot in unserem Kopf sein Cockpit hat. Routinetätigkeiten werden von den sogenannten Basalganglien gesteuert, einer Ansammlung grauer Zellen unterhalb der Grosshirnrinde.

In einer Pandemie können wir uns weniger auf die Basalganglien stützen. Plötzlich müssen alltägliche Handlungen überdacht werden: Darf ich mein Kind trotz Kratzen im Hals in die Schule schicken? Halte ich einen Schwatz mit dem Nachbarn, oder ist das Risiko einer Ansteckung zu gross?

Das ständige Neujustieren des Alltags im Zeichen der Bedrohung führt dazu, dass unser Aufmerksamkeits-Reservoir rasch aufgebraucht ist. Wir fühlen uns müde und gereizt.

Noch gar nicht erwähnt sind da die Epidemiologen, die auf allen Kanälen vor dem Kollaps der Spitäler warnen – die Wissenschaftler prophezeien nichts weniger als eine nationale Katastrophe. Die Kinder geraten in Panik, wenn sie das leiseste Kratzen im Hals verspüren. Ihre Grosseltern verbarrikadieren sich. Dann die Angst um den eigenen Arbeitsplatz. Mit einem Satz: Es wird alles etwas viel.

Politiker haben letztlich eine ein­zige Aufgabe: Sie müssen Verantwortung tragen. So hat es der deutsche Soziologe Max Weber vor über 100 Jahren formuliert. Schaut man sich an, wie unsere Exekutiven im Corona-Herbst agieren, scheint hier ein Missverständnis vorzuliegen: Statt «ver-antwortet» wurde ­«ver-sagt». Klingt beides wie «reden», bedeutet aber ziemlich das Gegenteil.

Zwar haben manche Kantone diese Woche teils drastische Bestimmungen zur Bekämpfung der Pandemie erlassen. Allerdings erwecken sie damit kaum den Eindruck verantwortungsbewussten Handelns. Die Herren und Damen Regierungsräte wirken wie aus langem Schlaf hochgeschreckt (während andere sogar heute noch vor sich hin dösen).

Es ist kaum anzunehmen, dass die bisherigen Massnahmen reichen, um die zweite Corona-Welle zu brechen. Und selbst wenn: Das Virus bleibt den ganzen Herbst und Winter über eine Gefahr. Corona-Furcht wie Corona-Müdigkeit werden uns lange verfolgen.

Der Bundesrat kommt nicht umhin, das Heft jetzt wieder in die Hand zu nehmen. Dies ist zuallerletzt ein Ruf nach einer autoritären Führung! Es ist schlicht so, dass die Fahrlässigkeit und das Zögern der Kantone das Leben vieler Menschen bedroht.

Ebenso geht es um Komplexitätsreduktion. Solange die Pan­demie grassiert, muss die Verantwortung für deren Eindämmung unmissverständlich bei einem einzigen Gre­mium liegen. Unser Seuchenalltag ist belastend genug. Da darf die ­Politik nicht für zusätz­liche Komplikationen und Verwirrung sorgen.

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