Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Die Bewegung der Impfgegner zeigt totalitäre Züge

Sie ist zwar nur eine kleine Minderheit. Doch der radikalen Anti-Impfbewegung ist es gelungen, ein Klima zu schaffen, wie man es hierzulande lange für undenkbar gehalten hat. Und die Aggressivität dürfte in den nächsten Wochen eher zu- denn abnehmen.
Publiziert: 26.09.2021 um 14:40 Uhr
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Aktualisiert: 26.09.2021 um 14:45 Uhr

Die radikalen Impfgegner auf der Strasse skandieren «Liberté» – Freiheit. Sie berufen sich damit auf einen zentralen Wert unserer Gesellschaft. «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren», heisst es in Artikel eins der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Allerdings verrät das Wort «Freiheit» allein nichts über die Geisteshaltung dessen, der es benutzt. Keinem anderen Begriff ist in den letzten 200 Jahren derart viel Gewalt widerfahren.

Selbst die schlimmsten Unterdrücker der Menschheit beriefen sich auf die Freiheit. 1935 feierten die deutschen Nationalsozialisten den «Parteitag der Freiheit». Das war jene Propagandaveranstaltung der NSDAP, bei der die sogenannten Nürnberger Rassengesetze verkündet und die Juden in Deutschland ihrer staatsbürgerlichen Rechte beraubt wurden.

Der sowjetische Diktator Josef Stalin beschwor in seinen Reden die «Freiheit der Arbeiter und Bauern», Vorgänger Lenin forderte «Freiheit für die Arbeiterklasse».

SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty.

Aber ist es nicht mehr als übertrieben, die paar Tausend radikalen Impfgegner in einem Atemzug mit den finstersten Gestalten der Geschichte zu nennen? Die Beispiele führen in jedem Fall vor Augen: Nur weil einer die Freiheit im Mund führt, ist er noch lange nicht ihr Fürsprecher. Wichtig ist der Zusammenhang, in dem das Wort gebraucht wird. Entscheidend sind die Taten.

Doch gerade im Hinblick auf ihr Handeln darf sich man bei den radikalen Impfgegnern nichts vormachen. Die Bewegung zeigt erschreckend aggressive und totalitäre Tendenzen. In den Vorzimmern mancher Bundesräte stapeln sich Drohbriefe, praktisch täglich erhalten sie einschüchternde Anrufe und E-Mails. Auch auf unserer Redaktion treffen Schreiben ein wie dieses: «Früher hat man solche Leute wie Sie an die Wand gestellt und erschossen oder zumindest krüppelreif geschlagen.»

Gewiss ist die Anti-Impf-Bewegung nach wie vor weit davon entfernt, Frieden und Demokratie in der Schweiz aus den Angeln zu heben. Wir sprechen, erstens, von ein paar Tausend Aktivisten und, zweitens, operiert hier keine neue RAF. Gleichwohl ist es dieser kleinen Minderheit gelungen, ein Klima zu schaffen, wie man es hierzulande lange für undenkbar gehalten hat. Da die Abstimmung über das Covid-Zertifikat erst Ende November ansteht, dürfte die Aggressivität in den nächsten Wochen eher zu- denn abnehmen.

Hinzu kommt, dass sich die grösste Partei des Landes der Bewegung hemmungslos anbiedert. Ueli Maurer ist einer von drei Bundesräten, die sich prioritär impfen liessen. Nichtsdestotrotz posierte dieser Impfdrängler vor zwei Wochen an einer SVP-Veranstaltung im Zürcher Oberland im Shirt der sogenannten Freiheitstrychler – einer jener Organisationen, die bei den Demonstrationen der radikalen Impfgegner den Ton angeben. Zuvor hatte er dem Publikum zugerufen, ein «Gegengewicht zur gefährlichen Machtkonzentration» in Bern zu bilden. Die Menschen müssten sich «wehren gegen den Mainstream und gegen die Moral», sagte Maurer. Er verbreitete bei dieser Gelegenheit gleich noch den Unsinn, die Covid-Impfung mache Frauen unfruchtbar. Mit derlei Darbietungen bestätigt dieser Meister der Doppelzüngigkeit die radikalen Impfgegner in ihrer Haltung und er befeuert sie in ihrem Tun.

Unser Rechtsstaat gibt jedermann die Freiheit, Unfug zu erzählen und insbesondere dem Wort Freiheit noch mehr Gewalt anzutun. Ebenso aber gehört es in einem funktionierenden Rechtsstaat zur Aufgabe der Medien, den totalitären Charakter einer Bewegung zu benennen – sowie die Gefahren, die davon ausgehen. Nicht weniger deutlich müssen die Medien darauf hinweisen, dass Politiker wie Ueli Maurer unmittelbar die Verantwortung dafür tragen, wenn das Misstrauen gegenüber unseren Institutionen stärker wird. Und wenn dieses Misstrauen in offenen Hass umschlägt.

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