Editorial von Gieri Cavelty
Der 26. September wird ein Festtag für die Menschenwürde

Am 26. September dürfte eine grosse Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer die Ehe für alle absegnen. Der Sonntag in drei Wochen wird damit ein Festtag für die Menschenwürde. Doch gerade im Familienbereich bleibt auch in Zukunft vieles im Argen.
Publiziert: 05.09.2021 um 00:55 Uhr
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Aktualisiert: 05.09.2021 um 20:21 Uhr

Noch in den 1970er-Jahren wurden in vielen Schweizer Städten Schwule und Lesben von der Polizei beschattet und fichiert. Wer einmal vom sogenannten Homo-Register erfasst war, lebte in ständiger Angst, die Arbeitsstelle zu verlieren, die Wohnung, die Zuneigung der eigenen Angehörigen. Finstere Zeiten waren das!

Eine fortschrittliche und menschenfreundliche Politik sah damals darum so aus: 1978 verlangte die SP der Stadt Zürich in einem Vorstoss die Abschaffung des örtlichen Homo-Registers. Vier Jahre danach schrieb die SP Schweiz dann in ihr Parteiprogramm, dass homosexuelle Paare gleich behandelt werden sollen wie heterosexuelle. Bis sich dieses Ideal in konkreten politischen Vorstössen niederschlug, dauerte es allerdings noch sehr lange.

Heute ist die gleichgeschlechtliche Liebe tatsächlich breit akzeptiert: Am 26. September dürfte eine grosse Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer die Ehe für alle absegnen. Für diese spektakuläre Neubesinnung gibt es zahlreiche Gründe. Da war natürlich das Engagement von Lesben und Schwulen und ihren Organisationen. Ausserdem haben offen homosexuell lebende Prominente das Thema entkrampft. Aus einer globalhistorischen Perspektive sind es vor allem aber zwei Entwicklungen auf dem Gebiet der Medizin, die den Wandel zunehmend in Fahrt brachten: der Siegeszug der Antibabypille in den 1960er-Jahren sowie der Durchbruch der Reproduktionsmedizin ein Jahrzehnt später. Liebe, Sex und Fortpflanzung wurden voneinander entkoppelt – das ermöglichte es, auch Ehe und Familie neu zu denken.

Der Sonntag in drei Wochen wird ein Festtag für die Menschenwürde! Der 26. September ist zugleich jedoch der richtige Zeitpunkt, um zu fragen: Wie muss eine fortschrittliche und menschenfreundliche Politik in Zukunft aussehen? Auch wenn das Recht auf die Ehe für alle durchgesetzt ist, liegt gerade im Familienbereich einiges weiterhin im Argen. Die Schweiz ist weit und breit das einzige Land, das auf Familienpolitik offiziell verzichtet. Wir haben zwar ein Departement für Militär und Sport mit einem Budget von weit über sechs Milliarden Franken, für Familienfragen freilich ist im Bundesrat niemand zuständig.

Es kommt nicht von ungefähr, dass der Mutterschaftsurlaub hierzulande viel kürzer ist als im übrigen Europa. Im Klartext: Junge Mütter und ihr Neugeborenes werden in der Schweiz schlechter geschützt als anderswo. Es kommt nicht von ungefähr, dass für Kinder Krankenkassenprämien fällig werden – anders als beispielsweise in Deutschland – und die externe Kinderbetreuung ein Vermögen kosten kann. Ebenso wenig ist es ein Zufall, dass alleinerziehende Mütter die mit Abstand längsten Arbeitstage haben und trotzdem akut armutsgefährdet sind. Für viele dieser Frauen und ihre Kinder sind die Zeiten auch heute noch ziemlich finster.

Die Prognosen für den 26. September zeigen: Vorstellungen über Ehe und Familie und Gesellschaft lassen sich ändern. Es ist darum keineswegs utopisch, das Ziel einer fortschrittlichen und menschenfreundlichen Politik weiterzuverfolgen: Nach der Ehe für alle geht es jetzt um ein gutes Leben für jede und jeden!

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