Frank A. Meyer
Wer die Wahrheit hat

Publiziert: 05.03.2017 um 12:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 22:35 Uhr
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Frank A. MeyerPublizist
Frank A. Meyer
Foto: Antje Berghäuser

Der konservative deutsche Philosoph Marc Jongen soll nicht an einer Podiumsdiskussion im Zürcher Theaterhaus Gessnerallee teilnehmen dürfen. Das fordern Hunderte Kulturschaffende aus Deutschland und der Schweiz in einem «offenen Brief».

Vier Diskutanten plus ein Moderator hätten den Gast aus Deutschland eingehegt. Der linken «Wochenzeitung» (WoZ) war das nicht Garantie genug für ein «ausgewogenes Gespräch», weshalb sie den Auftritt des rechtspopulistischen Denkers, der sich politisch in der «Alterna­tive für Deutschland» (AfD) engagiert, zum Skandal ausrief. In einem hat die WoZ allerdings recht: «Ausgewogen» wäre nicht ein Verhältnis 4:1, sondern 2:2 – aber so meint es das Blatt natürlich nicht.

Wie kommen linke Künstler und Journalisten dazu, Redeverbote für Andersdenkende zu fordern? Verlangt linke Tradition nicht genau das Gegenteil? Ihr Urvater, der Aufklärer Voltaire, formulierte den Leitspruch für jede freiheitliche Gesellschaft: «Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äussern dürfen.»

Soll diese Grundregel der Freiheit für den Philosophen Marc Jongen nicht gelten? Und wenn nicht, wie der linke Protest in der Schweiz es ja fordert, mit welcher Begründung?

Liegt es an Jongen? Ruft er auf zu Gewalt? Will er die Diktatur? Keineswegs. Er ist bekennender Konservativer, spricht sich aber auch gegen die Macht des Finanzkapitalismus aus, was eher ein linker Standpunkt ist. Er argumentiert gegen die Entfremdung des politischen Establishments vom Bürger, was der linke Denker Colin Crouch ebenfalls tut. Und er geisselt die unkontrollierte Einwanderung, was wiederum das Erfolgsthema der populistischen Rechten ist.

Das alles wäre Debattenstoff vom Feinsten, gewürzt mit dem offensichtlich explosiven Umstand, dass Marc Jongen das Heil in der AfD erblickt, die ihrerseits durchaus interessiert aufs rechtsradikale Wählerspektrum schielt. Wer die Auseinandersetzung mit dem Philosophen auf die Spitze treiben möchte, der könnte dessen Meisterdenker aufs Tapet bringen: Martin Heidegger und Carl Schmitt, beide Demokratieverächter und geistige Förderer der konservativen Revolution, die in der Nazidiktatur gipfelte, beide dem «Führer» aktiv zudienend, Heidegger als Universitätsrektor, Schmitt als Staatsrechtler.

Wäre das ein toller Streit auf der Bühne der Gessnerallee! Eine Fest für debattenfreudige Demokraten.

Doch das freiheitliche Fetzenfliegenlassen darf nicht sein!

Hat die Linke Angst vor Marc Jongen? Will sie der rechtspopulistischen AfD die Auseinandersetzung verweigern – ausgerechnet in einem Land, dessen grösste Partei zum Verwechseln ähnlich politisiert und polemisiert, manchmal sogar rechts von der AfD?

Alles sehr befremdlich. Und doch wieder nicht.

Für die Kulturlinke ist es nämlich ungewohnt, dass nicht mehr sie bestimmt, welche Debatte zugelassen wird und welche nicht. Die neuen Teilnehmer vom rechten Rand fordern sie völlig unerwartet heraus. Nun muss sie ihre Vorstellung von einer offenen Gesellschaft – und von einer demokratischem Debattenkultur – unter Beweis stellen. Sie tut sich offensichtlich schwer damit. Sehr schwer.

Die Kampagne gegen den sorgsam eingehegten Auftritt von Marc Jongen in Zürich ist nur das aktuellste Beispiel für diese Mühe der Linken. In Berlin verhinderten radikale Randalierer und militante Muslime ein journalistisches Gespräch mit dem Migrationskritiker Thilo Sarrazin. Ort des Geschehens: die Bühne des Berliner Ensembles, des einstigen Theaters von Bertolt Brecht. Berlins sozialdemokratischer Parteipräsident gratulierte der grölenden Meute per SMS.

Noch vor kurzem lautete der Schlachtruf der linken politischen Kultur: Für die freie Rede! Heute ist dieses Pathos verkommen zu dem Reflex: Gegen die freie Rede – der Rechten!

Ja, die Wirklichkeit entspricht nicht mehr der linken Ideologie: Die Arbeiterklasse ist im Bürgertum verdampft, der Sozialismus hat Pleite gemacht, der Fortschrittsglaube ist ökologisch in Verruf. Nirgends mehr Utopie. Überall nur noch Pragmatismus.

Der französische Essayist Pascal Bruckner hat die Havarie der Avantgarde von gestern in der «Neuen Zürcher Zeitung» mit eindrücklichen Worten beschrieben. «Dies ist das Dilemma des linken Denkens heute: Um zu überleben, ist es gezwungen, den eigenen Kern zu verraten und die eigenen universalistischen Werte zu leugnen. In einem ganz andern Bereich veranschaulichen das jene engagierten Intellektuellen, die den Hijab, die Burka, die Minderwertigkeit der Frau im fundamentalistischen Islam gerade unter Berufung auf die Menschenrechte verteidigen und alle mög­lichen Ausreden finden für die Greuel der Jihadisten.»

An der verqueren Verteidigung des reaktio­nären Islam wird die linke Geschichtsvergessenheit besonders deutlich. Die Verleugnung der aufklärerischen Religionskritik bedeutet Verzicht auf Totalitarismuskritik.

Entsteht auf der Linken gerade eine neue Rechte?

Oder war es schon immer so? War die sozialistische Sehnsucht nach Aufhebung der Geschichte in einer Utopie immer schon stärker als das Bekenntnis zur offenen Gesellschaft? Einer Gesellschaft der Fragen, nicht der Antworten?

Es ist auch alles viel einfacher so: Wer die endgültige Antwort hat, sich also im Besitz der Wahrheit wähnt, muss nicht mehr diskutieren. Schon gar nicht mit einem erzkonservativen Philosophen wie Marc Jongen.

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