Frank A. Meyer – die Kolumne
Im Sandkasten

Publiziert: 31.12.2023 um 00:33 Uhr
Frank A. Meyer

Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss, der sich gern als bärbeissiger Nachdenker ablichten lässt, sieht schwarz: Die Linke, zu der er selber zählt, stehe vor einem «Scherbenhaufen». Zu diesem finsteren Befund sieht er sich durch das Schweigen seiner Gesinnungsgenossen zum Terror der Hamas veranlasst. 

Wer von «Scherbenhaufen» spricht, hat dabei natürlich das intakte Gefäss vor Augen, das nun in Stücken am Boden liegt – die Linke eben.

Bloss: War die Linke je ein Gefäss von «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», wie die Französische Revolution sie besang? Ja, die Arbeiterbewegung aus linken Parteien, vor allem der Sozialdemokratie, und die Gewerkschaften verwirklichten die revolutionäre Brüderlichkeit, indem sie den Sozialstaat erkämpften – und die Arbeiterschaft zu einem Teil der Bürgerschaft machten.

Der moderne, politisch gestaltete Kapitalismus ist die Vollendung der bürgerlichen Gesellschaft, der offenen Gesellschaft im Sinne des Demokratie-Denkers Karl Popper – einer Welt, deren Vollendung im Unvollendeten besteht, im immer wieder Neudenken des Gedachten.

Versuch und Irrtum nennt Karl Popper diesen Mechanismus der fortwährenden Überprüfung und Verbesserung: politische Wahrheit gibt es immer nur auf Zeit – bis sie durch eine neue politische Wahrheit falsifiziert wird.

Wahr sind ausschliesslich Demokratie und Rechtsstaat: als unabdingbare Voraussetzung für das nach vorn gerichtete offene Denken – und Handeln. Demokratie als Werkstatt der Freiheit: Das ist die politische Kultur des Westens.

Gehört die Linke noch dazu, wie sie dies für sich reklamiert? Die Geschichte spricht eine andere Sprache: Kommunisten und linke Sozialisten erklärten die Überwindung, ja die Liquidierung der «Bourgeoisie» zu ihrem Hauptziel – und verhinderten deshalb kurz vor Hitlers Machtergreifung die Einheitsfront mit der reformerischen Sozialdemokratie gegen Faschismus und Nazismus.

Für Lenins und Stalins Genossen galten die Sozialdemokraten als Sozialfaschisten, als Feinde, nicht als Freunde im Kampf um die Freiheit.

Wen bekämpft die Scherben-Linke von Lukas Bärfuss heute? Die Werte des Westens, den sie systematisch verunglimpft: als rassistisch, sexistisch und kolonialistisch, vorab die USA, den grossen Welt- Satan, dessen kleiner Satan derzeit im Krieg gegen die palästinensisch-islamische Hamas steht: Israel. 

Die Feindfigur dieser Linken ist der «alte weisse Mann», das rassistisch gefärbte Hassbild einer «woken» Jugend von ihren Vätern und Grossvätern. Unter «Wokeness» wiederum versteht sie politische Wachheit – vor allem die Bereitschaft zum Kampf gegen jene greise Gespenstergestalt.

Der französische Philosoph Alain Finkielkraut, einst Angehöriger der radikal linken Bewegung von 1968, sagt es mit folgenden Worten: «Der Wokeismus ist die totale Infragestellung der westlichen Kultur.»

«Er ist wie ein Todeskult.»

Die aktuelle Woke-Bewegung steht in der Nachfolge der inzwischen legendären 68er, die sich selbst zur Generation der Befreier von Mief und Macht der Eltern überhöhten. Der Historiker Götz Aly, ebenfalls Alt-68er, kommt zu einem anderen Schluss: Im Blick zurück sieht er Revoluzzer am Werk, «die das System der Republik von der historischen Bühne fegen wollten».

Das Ziel der linken Linken war stets eine antiwestliche Gesellschaft: Sozialismus mit menschlichem Antlitz damals, Antikapitalismus mit grünem Gewissen heute. Nur keine bürgerliche Wertewelt!

Die politische Kultur, wie wir sie heute kennen, ist nicht zuletzt eine historische Leistung der Sozialdemokraten, die sie gemeinsam mit Liberalen und Christdemokraten zur selbstverständlichen Alltagskultur gemacht haben – der ständig fortschreitende Reformprozess von Demokratie und Rechtsstaat. Diese Urwerte der Aufklärung sollen aktuell gerade wieder einmal zunichtegemacht werden.

Durch die woken Kindeskinderkinder der 68er.

Eine wohlstandsverwöhnte Generation bekämpft, was sie zeit ihrer Jugend geniessen durfte: das Auto – mit dem Mama und Papa sie zur Schule fuhren; die Ferien im Süden – zu denen Papa und Mama sie ins Flugzeug packten; das verschleckte Wohlleben – für das ihr Mama und Papa das Portemonnaie öffneten. 

Der Elternsturz wird zu einem Akt von globaler Bedeutung emporstilisiert: statt des klimasündigen Nordens möge der unschuldige «globale Süden» herrschen – was immer mit solchem Wortkitsch gemeint sein könnte.

Armut als Abbitte: ein Kinderglaube, gepredigt von Pastoren wie Professoren wie NGO-Aktivisten wie Journalisten.

Im 68er-Sandkasten werden wieder Burgen gebaut.

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