Frank A. Meyer – die Kolumne
Bühne der Freiheit

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Publiziert: 13.12.2020 um 08:20 Uhr
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Aktualisiert: 23.01.2021 um 19:41 Uhr
Frank A. Meyer

Wahrlich eine weise Einsicht: «Zukunft braucht Herkunft.» Sie entstammt dem Denken von Odo Marquard (1928–2015). Ob der grosse Satz, den der deutsche Philosoph in drei Wörtern formulierte, auch schon mal in Zürich vernommen wurde? Be­herzigt jedenfalls wird er dieser Tage nicht.

Die Zürcher Stadtregierung ist entschlossen, den nahezu 100-jährigen Theatersaal des Schauspielhauses zu opfern. 115 Millionen soll die Tilgung der Vergangenheit durch einen Neubau kosten.

Vernichtung von Herkunft zur Errichtung von Zukunft.

Unter Führung eines Hoch­bauvorstehers des Namens André Odermatt stellt der linksgrüne Stadtrat Odo Marquards Weisheit auf den Kopf.

Was ist die Herkunft, die mit dem Abriss liquidiert wird? Das Schauspielhaus war während der Nazi-Diktatur die bedeutendste freie Theaterbühne des deutschen Sprachraums. Hier fanden grosse Künstler wie Therese Giehse, Ernst Ginsberg, Albert Bassermann, Grete Heger, Kurt Horwitz oder Leopold Lindtberg Zuflucht vor Hitler-Deutschland – hier standen sie auf den Brettern, die ihnen Leben und Freiheit bedeuteten. Auch verbotene Stücke von Bertolt Brecht ­hatten glanzvolle Premiere.

Schillers «Wilhelm Tell» unter der Regie von Oskar Wälterlin mit Heinrich Gretler in der Hauptrolle wurde 1939 zur Manifestation gegen Nazismus und ­Faschismus. Die «Pfauenbühne», wie das Haus von allen genannt wurde, war die Freiheits-Bühne Europas.

Nie leuchtete Zürich heller, nie war ­Zürich grösser.

Nach dem Krieg wurde das Schauspielhaus zur Premieren-Heimat für Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch – Welt­theater an der Limmat. Der widerstän­dige und aufrührerische Geist der frühen Jahre beseelte Regisseure, Schauspieler und Zuschauer nachfolgender Genera­tionen bis hin zu Christoph Marthaler – und darüber hinaus.

Das Ambiente des rot bestuhlten Saales atmet bis heute die grosse Zeit der Anfänge und erfüllt die Atmosphäre der Gegenwart.

Herkunft bestimmt Zukunft.

Ist es eine ausschliessliche Zürcher An­gelegenheit, wenn ein Lokalpolitiker ­geschichtsvergessen Hand an dieses Denkmal legt?

Nein, der Pfauensaal gehört nicht ­Zürich.

Er gehört der europäischen Geschichte: ihrem schrecklichsten Kapitel, in dessen Zeit er Herberge war für mutige Künstler und kämpferisch gestimmte Bürger.

Hort der Freiheit.

Muss man Zürich daran erinnern, dass einst auch die Buchhandlung Oprecht, wie die Pfauenbühne an der Rämi­strasse gelegen, ein Ort des ­Widerstandes war? Verleger Emil Oprecht publizierte in seinem Verlag mit Wolfgang Langhoffs «Moorsoldaten» 1935 den ersten Tatsachenbericht über die Konzentrationslager der Nazis. Im Schaufenster seiner Buchhandlung zeigte Oprecht auf einem Scheiterhaufen die ­Bücher, die Hitlers Propaganda­minister Joseph Goebbels hatte verbrennen lassen.

Zum Widerstandskreis um den Zürcher Freigeist zählte Thomas Mann, Nobelpreis­träger für Literatur, unter dessen Mitwirkung in Oprechts Verlag die Zeitschrift «Mass und Wert» erschien. Bis in die Achtzigerjahre hinein konnte man im Buchladen Elias ­Canetti auf ­einem Stühlchen sitzend beim Blättern und Lesen an­treffen. Zur Nachhilfe für ­Zürcher Behördenmitglieder: Canetti zählt zu den bedeutendsten Schrift­stellern deutscher Sprache des 20. Jahrhunderts, 1981 war er Nobelpreisträger.

Auch der Buchhandlung Oprecht gelang es nicht, die historisch-kul­turelle Für­sorge der links regierten Geldstadt zu wecken. Sie wurde liquidiert und durch ein Reisebüro ersetzt.

Geht die Reise der Pfauenbühne in eine Zukunft ohne Herkunft? Vielleicht schämt sich im Stadthaus ja irgend­jemand.

Rechtzeitig noch.

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