Flolklore und falscher Patriotismus
Im Zweifel für den Zweifel

Publiziert: 02.08.2020 um 04:15 Uhr
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Aktualisiert: 02.08.2020 um 11:39 Uhr
Sven Zaugg

Patriotismus. Kein anderer ­Begriff ist emotional und politisch derart aufgeladen und vermag so sehr zu polarisieren. Nicht ohne Grund. Denn gerade die Menschen, die sich Patrioten loben, die Bürger, die sich nicht hintersinnen, nicht zweifeln, an sich, am Land, ­werden allzu schnell zu naiven und in manchen Fällen ­sogar gefährlichen Nationalisten, ­deren einziges Ziel es ist, sich und «ihr Volk» über andere zu erheben.

Jedes Jahr verwechseln enga­gierte Rednerinnen und Redner landauf, landab von Genf bis Romanshorn ­Patriotismus mit nationalistischer Folklore. Wieder und wieder wird ­geleiert, dass die Eidgenossenschaft schon immer unerschütterlich ihren eigenen Weg ging und gehen wird. Ohne Zweifel und Zweifler. Immer schön geradeaus.

Das einzige Glück bei den gestern wegen Corona abgesagten 1.-­August-Feiern ist, dass die falschen Patrioten gezwungen waren, den ­falschen Patriotismus ohne Publikum zu feiern. Dabei zeigt die Geschichte eindrücklich, dass gerade die, die an sich und ihrer politischen Heimat zweifeln, die, die ihr Land lieben, aber nicht blind, die wahren Patrioten sind.

Sven Zaugg, Reporter.
Foto: Paul Seewer

Max Waibel (1901–1971) war ein solcher Mensch. In seiner Funktion als Offizier im Generalstab beim Schweizer Nachrichtendienst während des Zweiten Weltkriegs sorgte er mit seinem diplomatischen Geschick dafür, dass Norditalien nicht in Schutt und Asche gelegt wurde.

In Eigenregie und ohne Wissen des Bundesrats vermittelte der Luzerner an der Rückzugslinie der Nazis bei ­Piacenza zwischen italienischen ­Partisanen, den verbliebenen deutschen Truppen, den Alliierten und den Russen einen Waffenstillstand. Ohne offizielles Mandat der Schweiz ­handelte Waibel damit ­gegen die bundesrätliche Maxime: Keine Verhandlungen mit deutschen Truppe in Norditalien ohne grünes Licht aus ­Berlin. Bern indessen distanzierte sich von den Friedensbemühungen Waibels. Aus Angst vor einem Vergeltungsschlag. Waibel weibelte weiter für den Frieden, schleuste ranghohe Militärs zu geheimen Treffen in die Schweiz, bezahlte dies sogar aus eigenem Sack. Waibel, der Offizier, der über 40 Jahre in der Armee gedient hatte. Waibel, der sich seinem Vaterland verpflichtet fühlte – und sich gleichzeitig seine Unabhängigkeit bewahrte.

Der Nachrichtenoffizier setzte mit seinem Alleingang seine Offiziers­karriere und seinen Ruf aufs Spiel. ­ Er musste sogar damit rechnen, vors Militärgericht gezerrt zu werden. Waibel sagte später: Er habe in erster Linie den Krieg abkürzen wollen, und dies nicht aufgrund eines Befehls, sondern dem Ruf des eigenen Gewissens folgend. Im Zweifel entschied sich Waibel für den Zweifel. Ein wahrer Patriot.

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