Editorial von Chefredaktor Gieri Cavelty über unsere fatale Abhängigkeit von Öl und Gas
Auch die Schweiz ist in Putins Gasfalle getappt

2021 importierte unser Land mehr Erdgas als je zuvor – und 43 Prozent dieser Menge stammten aus Russland. Wir sind alle süchtig nach fossiler Energie. Und wie alle Süchtigen erfinden wir ganz viele Argumente, um uns die prekäre Lage schönzureden.
Publiziert: 14.08.2022 um 00:57 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2022 um 13:33 Uhr
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Acht Millionen Tonnen! So viel Heizöl, Benzin und Diesel wurden im letzten Jahr in der Schweiz verbraucht. Wollte man die gleiche Menge an Energie aus Holz gewinnen, müssten wir sämtliche Ahorne, Lärchen und Arven verfeuern, die es hierzulande gibt. In den folgenden zwölf Monaten wären alle Eschen, Föhren, Kastanien und Eichen fällig.

Womöglich müssten wir dann freilich feststellen, dass sich die Eschen bereits in Rauch aufgelöst haben. Schliesslich hat es davon gerade einmal knapp genug, um unseren jährlichen Konsum von Erdgas zu ersetzen.

Es wäre selbstverständlich absurd, unsere Wälder roden zu wollen, um eine drohende Energielücke zu schliessen: In weniger als sieben Jahren stünde in der Schweiz kein einziger Baum mehr. Der Holzvergleich macht aber anschaulich, auf wie grossem Fuss wir heute leben. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist uns die Abhängigkeit von Öl und Gas zur zweiten Natur geworden. (Vorher wirtschaftete und heizte man hauptsächlich mit Kohle.) Von einer solchen Sucht gibt es nur schwerlich ein Loskommen. Jedenfalls bräuchte es dazu bedeutend grössere Anstrengungen, als wir sie bislang unternommen haben. Doch wie alle Süchtigen erfinden wir ganz viele Argumente, um uns die prekäre Lage schönzureden.

Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Thomas Meier

Gewiss, im vergangenen Jahr wurde in der Schweiz eine Rekordzahl von Wärmepumpen installiert. Im selben Zeitraum kamen dreimal mehr Solaranlagen neu ans Netz als 2017. Im Jubel über derlei Fortschritte ging allerdings unter, dass die Schweiz bei der Produktion von Sonnen- und Windenergie im europäischen Vergleich nach wie vor weit zurückliegt. Gleichfalls nicht zur Kenntnis genommen wurde ein anderer Rekord: 2021 importierte unser Land mehr Erdgas als je zuvor – und 43 Prozent dieser Menge stammten aus Russland. Zehn Jahre zuvor hatte dieser Anteil lediglich 22 Prozent betragen.

Ja, auch die Schweiz ist in Putins Gasfalle getappt.

Fossile Energie ist das Schlüsselelement der Weltwirtschaft. Sie ist aber ebenso Ursache für Elend und Verderben. Ökonomen haben ausgerechnet, dass die Kriegsgefahr für ein Land mit viel Öl und Gas im Untergrund 80-mal höher ist als für einen Staat, der nicht über solche Bodenschätze verfügt.

Auch Russlands Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine ist aus dieser Optik leichter erklärbar. Vor zehn Jahren wurden im ukrainischen Hoheitsgebiet des Schwarzen Meeres sowie im Osten des Landes enorme Gasvorkommen entdeckt. Damals teilte der ukrainische Energieminister mit, sein Land werde in Zukunft genügend Erdgas fördern, um Einfuhren aus Russland überflüssig zu machen. Mehr noch: Die Ukraine war drauf und dran, zu einer ernsthaften Konkurrenz Russlands auf dem internationalen Gasmarkt zu werden. Die Annahme, dass Putin die Ukraine auch aus diesen Gründen überfallen hat, ist nicht von der Hand zu weisen. Gas und Öl sind für Russlands Diktator keine x-beliebige Handelsware, sondern seine wichtigsten Einnahmequellen und sein zentrales Machtinstrument. Mit den Erlösen aus dem Rohstoffgeschäft sichert sich Putin seine Herrschaft im Innern, mit billigem Gas macht er das Ausland gefügig.

Die Kriegsstrategie des Gewaltherrschers im Kreml war eine brutale Fehlspekulation. Was seine starke Stellung als Europas Gasmann betrifft, liegt Wladimir Putin leider aber mehr als richtig: Der Westen hat sich nicht nur ausserstande gezeigt, einen Boykott gegen russisches Gas zu verhängen – aus Angst vor einem kalten und wirtschaftlich harten Winter winselt Europa nachgerade um grosszügige Gaslieferungen und damit um Putins Gnade.

Die Situation ist sogar noch schlimmer. Denn selbst das mit grosser Geste verkündete Ölembargo existiert höchstens sehr bedingt. Russisches Öl gelangt jetzt einfach via Saudi-Arabien in den Westen. Die Regierungen in den USA und Europa lassen das zu, aus Angst vor einer noch höheren Inflation – «Bidenflation» lautet das entsprechende Schimpfwort in Amerika – und vor sozialen Unruhen.

Man kann das alles Realpolitik nennen. In Wirklichkeit aber handelt der heroische Westen wie ein abgerissener Süchtiger, der sich selbst und der Welt etwas vormacht.

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