Editorial über Putin-Versteher und grüne Atompläne
Die Grenzen des Anti-Mainstreams

Das gezielte Abweichen von der geltenden Norm garantiert Aufmerksamkeit. Wenn Populisten dazu den Ukraine-Krieg missbrauchen, ist das erbärmlich.
Publiziert: 24.07.2022 um 09:13 Uhr
Reza Rafi

Der Satz schockierte die Musikwelt. Wolfgang Amadeus Mozart erreichte im 20. Jahrhundert seine monumentale Beliebtheit. Mitten in die Mozart-Manie platzte der Pianist Glenn Gould mit einer ungeheuerlichen Äusserung: Der Komponist der Wiener Klassik, der nur 35 Jahre alt wurde, sei nicht zu früh gestorben, sondern zu spät.

Cool demonstrierte der Kanadier damit seine Verachtung für das Werk Mozarts, aber auch eine gewisse Koketterie: Gould pflegte durchaus Mozart-Stücke mit Begeisterung zu spielen.

Vor allem dürfte er ziemlich genau gewusst haben, was er mit seinem Tabubruch erreichte – immense Aufmerksamkeit. Womit wir bei der Wirkung eines Prinzips sind, das gerade schwer in Mode ist: Das Prinzip des Anti-Mainstreams, der kontrollierten Verneinung eines vermeintlichen Konsens.

Stv. Chefredaktor-SonntagsBlick Reza Rafi.
Foto: Thomas Meier

Goulds Beispiel zeigt, wo der Anti-Mainstream wurzelt, nämlich in der Kultur. Dort ist er durchaus unterhaltsam. Der italienische Künstler Piero Manzoni zum Beispiel füllte einst seine Fäkalien in Konservendosen und nannte sie «Merda d’artista». Antoni Gaudís verspielte Häuserfassaden in Barcelona, John Lennons Bemerkung, populärer zu sein als Jesus, Heinos Selbststilisierung mit blondiertem Haar und schwarzer Brille: All das ist ebenfalls Anti-Mainstream.

Irgendwann betrat der Anti-Mainstream die Bühne der Politik, die Schweizer waren dabei Pioniere: James Schwarzenbach machte Fremdenfeindlichkeit salonfähig, die Linken wollten den Staat entwaffnen, Christoph Blocher erfand das Feindbild Europa. Anti-Mainstream garantiert Aufmerksamkeit ebenso wie Aufschreie. Wer aus der Reihe tanzt, zieht die Blicke auf sich. Dieser Mechanismus hat ganze Journalistenkarrieren beflügelt, in einem Fall bis in den Nationalrat hinein.

Allerdings ist das Spiel mit dem Tabubruch nicht wirklich witzig, sobald es um Kriege geht, wenn zum Beispiel Russland die Ukraine überfällt und Frauen und Kinder mit Raketen beschiesst. Natürlich darf man Schweizer Politiker und Schriftsteller als Kriegstreiber beschimpfen, wie das ein konservatives Schweizer Wochenblatt tut. Man darf Wladimir Putin zum Nato-Opfer erheben, Erdogan zum Friedensengel und die Europäische Union zum Aggressor – das alles gehört zur Redefreiheit. Doch damit wird der Anti-Mainstream, die reflexartige Gegenmeinung, zur institutionalisierten Haltungslosigkeit.

Manchmal indes nötigt die Realität die Politik zum Bruch mit dem Mainstream. Bestes Beispiel sind die deutschen Grünen. Seit sie in Berlin mitregieren, holt sie die Kraft des Faktischen brutal ein. Plötzlich musste Vizekanzler Robert Habeck bei den Emiren am Golf auf Knien um Gas und Öl bitten. Und gestern plädierte Aussenministerin Annalena Baerbock auf Bild TV dafür, die deutschen Atommeiler möglichst lange weiterlaufen zu lassen, um den drohenden Energiemangel im Winter abzuwenden – oder haben wir uns da etwa verhört?

Wie auch immer man dazu inhaltlich steht – für die Umweltpartei sind solche Positionswechsel Kraftakte, die dereinst in Geschichtsbüchern stehen dürften.

Im Vergleich dazu wirkt es eher harmlos, wenn der Schweizer FDP-Präsident Thierry Burkart sich im SonntagsBlick-Interview dafür ausspricht, dass der Bund alles tun soll, um die heimischen AKW möglichst lange – und sicher – am Leben zu lassen. Es ist jedoch eine bemerkenswerte Abweichung von Doris Leuthards Energiewende, wenn sich der Chef einer grossen Bundesratspartei gegen die Ziele ausspricht, die das Volk 2017 mit der historischen Abstimmung über die Energiestrategie besiegelt hatte.

Der Ukraine-Krieg stellt nun so manches drastisch auf den Kopf. Die EU hat vor kurzem Atomkraft und Erdgas als nachhaltig eingestuft. Gleichzeitig schlagen Klimaforscher immer lauter Alarm.

Beinahe sehnt man sich heimlich nach den Zeiten, als Glenn Gould mit einem Mozart-Spruch für Aufregung sorgte …

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