Gieri Cavelty über den Ex-Raiffeisen-Chef
Pierin Vincenz war ein fabelhafter Geschichtenerzähler

Sogar die Gegner liebten seine Legende vom Aussenseiter aus den Bergen.
Publiziert: 03.03.2018 um 23:45 Uhr
|
Aktualisiert: 21.01.2022 um 09:30 Uhr
Gieri Cavelty
Gieri Cavelty: Chefredaktor SonntagsBlick
Foto: Paul Seewer

Das vielleicht schönste, in jedem Fall wirkungsmächtigste Banker-Märchen lautet: In der Bankenwelt geht es streng rational zu.

Ökonomen sprechen von Parabelkurven, Modellen, Zahlen. Sie schwärmen vom «vollkommenen Markt» mit seinen «vollkommenen Informationen» und davon, dass dieses Ideal an den Börsen manchmal sogar Realität wird.

Der bare Unsinn!

Banker sind vorab eines: reich entlöhnte Geschichtenerzähler.

Der Zürcher Ethnologe Stefan Leins erbringt dafür den wissenschaftlichen Nachweis. Für seine Doktorarbeit hat er Feldforschung in einer Grossbank betrieben. Unter dem Titel «Stories of Capitalism» gibt es Leins’ Erkenntnisse jetzt als Buch zu kaufen. Die zentrale These: Um ihre Kunden von sich zu überzeugen und den Markt als beherrschbar erscheinen zu lassen, werden Banker zu «Meistern in der Erzählkunst».

Gewiss: Mit der Finanzkrise vor zehn Jahren entpuppten sich viele Finanzmagier als gierige Hochstapler. Bloss hat es solche Demaskierungen in der Geschichte immer wieder gegeben.

Sogar das populärste amerikanische Kinderbuch ist eine kritische Parabel über den Finanzmarkt. In sein Märchen «Der Zauberer von Oz» hat Autor Lyman Frank Baum unter anderem diese versteckte Botschaft gepackt: Der Dollar hat nur Wert, solange ein aufgeblähter Zauberer dem Papiergeld Sinn andichtet.

Nach der letzten Finanzkrise brauchte es einfach eine andere Geschichte. Pierin Vincenz hat diese Geschichte geliefert.

Kürzlich widmete der «Tages-Anzeiger» der einstigen Raiffeisen-Ikone ein Porträt. Darin lesen wir: «Selbst als Pierin Vincenz längst Multimillionär war und ein Starbanker, der sich mit dem Helikopter zu Sitzungen fliegen liess, Mercedes-Cabrio-SLS-Fahrer wurde und sich eine Jacht samt Ferienhaus am Lago di Lugano zulegte, schrieb SVP-Ständerat Peter Föhn in einer Würdigung, dieser Pierin Vincenz sei eben noch ‹einä vo üüs›. Und irgendwie hatte er recht.»

Die Pointe ist, dass auch der «Tages-Anzeiger» Vincenz’ Story geschluckt hat. Denn weiter heisst es in dem Porträt: «Aufgewachsen ist Pierin Vincenz in einer katholischen Familie in Andiast, einem kleinen Dorf oberhalb Brigels. Es war eine bäuerliche, aber auch eine eminent politische Welt.»

Andiast! Brigels! Bäuerlich! Grosser Rätoromanen-Kitsch.

In Wirklichkeit ist Pierin Vincenz fünf Gehminuten vom Bahnhof Chur aufgewachsen. Keine weltläufige Gegend zwar, aber mit dem Hornschlitten fährt hier niemand zur Schule. Vincenz’ Vater war Ständerat, später Präsident des Verwaltungsrats der Schweizer Raiffeisenkassen. Nicht eben die Kinderstube eines Aussenseiters.

Pierin Vincenz hat die Unschuld aus Andiast, den leutseligen Anti-Banker lediglich gespielt. Wie, bitte schön, hätte es einem Anti-Banker denn auch gelingen sollen, die gute alte Raiffeisen zum potenten Geldhaus von heute hochzufahren?

Und weil seine Lebens-Geschichte selbst bei Kritikern auf Anklang stiess, muss Pierin Vincenz dann wohl irgendwann zu der Überzeugung gelangt sein, er könne sich eben noch mehr herausnehmen.

Noch mehr Geschichten.

Bis zum bitteren Ende.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?