«Abgeklärt & aufgeklärt» über den kapitalistischen Pragmatismus
Brasilien – gestalten statt verwalten

Im südamerikanischen Land weht ein grundpositiver, alltagskapitalistischer Geist. Man jammert zwar, aber nur über die korrupte Politik.
Publiziert: 24.07.2023 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 24.07.2023 um 21:57 Uhr
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René ScheuPhilosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP)

Karneval. Caipirinha. Armut. Kriminalität. Favela. Das sind Stereotypen über Brasilien, die in Schweizer Köpfen herumgeistern. Die Berichterstattung über das südamerikanische Land selbst ist getragen von einem eigenartigen Schauer des Mitleids, hinter dem sich ein Gefühl der eigenen Überlegenheit verbirgt. Was für ein Irrtum! Brasilien ist ein Land, das mehr denn je Aussicht auf Aufstieg verspricht. Die Schweiz hingegen scheint mir zu einem Land von Angsthasen zu werden, die bloss noch die Sorge hegen, das Erworbene oder Ererbte zu verlieren.

Auch diesen helvetischen Sommer verbringe ich aus familiären Gründen im brasilianischen Winter. Die Stimmung ist nicht nur wegen Aussentemperaturen um die 20 Grad angenehm – sie ist es, weil hier ein grundpositiver, alltagskapitalistischer Geist weht. Die Menschen nehmen ihr Leben selbst in die Hand. Sie experimentieren, machen sich selbständig, bilden sich weiter, verzichten, investieren, fallieren, stehen wieder auf, wagen das nächste Abenteuer.

Man jammert zwar auch hier – allerdings nicht über die anderen, die mehr haben oder mehr können als man selbst, sondern über die korrupte Politik. Ansonsten beklagt man Probleme nicht, sondern löst sie. Der private brasilianische Pragmatismus ist für einen verwöhnten Europäer geradezu wohltuend. Die Diskussionen drehen sich nicht darum, was andere einem schulden – im Zentrum steht vielmehr, was man dem Leben schuldet. Und die Schuld tilgt man, indem man das Beste aus seiner Situation macht.

Brasilien, hier der Blick auf Rio de Janeiro, ist ein Land, das mehr denn je Aussicht auf Aufstieg verspricht.
Foto: Getty Images/Aurora Creative

Ich besuche das Land seit 20 Jahren. Das Tempo des Fortschritts ist atemberaubend. Führten noch vor wenigen Jahren staubige Pisten vom Flughafen ins Zentrum von Belo Horizonte, sind es heute vierspurige Autobahnen, gesäumt von glänzenden Fassaden neuer Wohnsiedlungen. Der erweiterte Flughafen, betrieben von der Flughafen Zürich AG, funktioniert mit einer Kapaziträt von über 20 Millionen Passagieren pro Jahr tadellos. Die Skyline der Drei-Millionen-Stadt schiesst in die Höhe. Schicke Quartiere entstehen, die Gastronomie erklimmt ungeahnte Höhen, der Lebensstil der oberen Mittelschicht unterscheidet sich in nichts mehr von jenem eines Mitteleuropäers. Und dies alles geschieht trotz miserabler Politik.

Was nehme ich also diesmal mit von meinem Aufenthalt in Brasilien? Es gibt zwei Arten von Gesellschaft. Jene, die das Bestehende verwalten. Und jene, die die Zukunft gestalten. Jene, die nur noch über das Verteilen reden. Und jene, die wachsen wollen. Die Brasilianer pflegen die Schweiz wegen ihres Wohlstands und Erfolgs zu bewundern – wie lange noch?

René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.

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