Hindernisfrei Wohnen
«Ich kann hier ein eigenständiges Leben führen»

Yvonne Luginbühl (54) hat seit ihrer Geburt eine cerebrale Bewegungsbehinderung. Seit 20 Jahren lebt sie in Zürich in einer eigenen rollstuhlgängigen Wohnung und meistert ihr Leben so selbständig wie möglich.
Publiziert: 13.01.2020 um 10:33 Uhr
Corine Turrini Flury

Es dauert eine Weile, bis Yvonne Luginbühl (54) sich über die Gegensprechanlage auf das Klingeln beim Besuch von BLICK meldet und die Haustüre öffnet. Der Eingangsbereich des Mehrfamilienhauses an der Röschibachstrasse in Zürich ist ebenerdig, und im Erdgeschoss steht neben anderen Rollstühlen der Elektrorollstuhl der 54-Jährigen. Im fünften Stock bewohnt Luginbühl eine von 18 behindertengerechten Einzimmer-Wohnungen des Vereins Wohnhaus Röschibach.

Alles in Reichweite und einige Tricks

In ihrem zweiten Rollstuhl, den sie in der Wohnung benutzt, erwartet sie an der Wohnungstüre den Besuch und schickt sich sogleich an, Kaffee in der Küche zu machen. Die Küchenzeile ist unter dem Lavabo und den zwei Herdplatten offen. So kann die Frau, die sich seit Jahren nur noch mit dem Rollstuhl fortbewegen kann, möglichst nah an den Herd und sich auch ihre Mahlzeiten selber zubereiten.

«Ich brauche einfach für alles viel Zeit. Wenn ich ein Menü selber zubereite, dann ist das fast eine Tagesarbeit», erzählt Luginbühl lachend. Vorwiegend verpflegt sie sich daher mit Fertigmahlzeiten, die sie im Backofen mit integrierter Mikrowelle auf Rollstuhlhöhe wärmen kann.

Yvonne Luginbühl (54) lebt seit 20 Jahren eigenständig im Wohnhaus Röschibach in Zürich und bewältigt ihren anstrengenden Alltag so gut als möglich selbständig.
Foto: CTF
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Auch das Badezimmer ihres Appartements verfügt über bedürfnisgerechte Anpassungen. Die Dusche mit Sitzmöglichkeit im geräumigen Bad ist ebenerdig, der Spiegel auf Sitzhöhe, und die Toilette kann mit dem Rollstuhl erreicht werden. Die Rollläden der Wohnung sind elektrisch, und die Wohnungstüre verfügt über zwei Türspione auf unterschiedlichen Höhen.

Morgens und abends hilft Luginbühl die Spitex beim An- und Ausziehen, und eine Haushaltshilfe kümmert sich einmal pro Woche um Ordnung und Sauberkeit. Ansonsten bewältigt Luginbühl ihren Alltag selbständig. «Ich muss aber schon oft improvisieren und ich habe mir in vielen Bereichen eigene Techniken angeeignet.» Wertvoll waren für Luginbühl Tipps und Tricks, die ihr vor Jahren eine Ergotherapeutin beigebracht hat. «Damit ich meine Beine mit den heissen Mahlzeiten aus der Mikrowelle nicht verbrenne, lege ich mir beispielsweise seither immer ein Tuch auf die Beine, wenn ich das Essen aus der Mikrowelle nehme und zum Tisch fahre.»

Ihr Pflegebett ist höhenverstellbar, aber Luginbühl hat auch da eine eigene Technik. «Ich lasse das Bett immer unten und krieche am Morgen auf allen vieren aus dem Bett ins Bad und dusche mich auf dem Boden. Das ist für mich sicherer und zudem etwas Gymnastik», erklärt die humorvolle Single-Frau. Trotz ihrer Behinderung und den erschwerten Lebensbedingungen ist sie lebensfroh und kontaktfreudig.

Kindheit mit Handicap

Durch Sauerstoffmangel während der Geburt ist Yvonne Luginbühl schon ihr Leben lang körperlich stark beeinträchtigt. Drehen von Bauch- in Rückenlage und umgekehrt war ihr erst mit zwei Jahren möglich. Nach einer Operation konnte sie mit sieben Jahren erstmals ein paar Schritte gehen.

Mehrheitlich an Krücken und für weitere Wege mit dem Rollstuhl verbrachte sie ihre Kindheit und die Schulzeit. «Meine Eltern haben aber nicht ihr ganzes Leben und die Umgebung nach mir ausgerichtet. Dafür bin ich dankbar. So konnte ich mich trotz meiner Behinderung relativ selbständig und flexibel entwickeln und finde mich bis heute im Leben gut zurecht.»

Schwierige Wohnungssuche

Nach Abschluss der Handelsschule im Welschland fand die wissbegierige und lernfreudige Frau eine Anstellung als Sekretärin in einer Institution für psychisch angeschlagene Menschen im Kanton Zürich. Dann machte sie sich auf Wohnungssuche. «Das war neben meiner Behinderung aber auch schwierig, weil ich nicht viel verdient habe.»

Schliesslich lebte und wohnte sie für rund zwei Jahre an ihrer Arbeitsstelle, bis sie in einer möblierten Personalwohnung erstmals eine eigene Bleibe fand. «Das war nicht das Gelbe vom Ei, aber so konnte ich wenigstens einmal ausprobieren, ob ich in der Lage bin, allein zu wohnen, bevor ich teure Anschaffungen tätige. Es gab mir Sicherheit, dass im Personalhaus immer noch Leute im Notfall anwesend waren», erinnert sich Luginbühl.

Nach drei Jahren musste sie sich wieder auf Wohnungssuche machen, da das Personalhaus andersweitig genutzt wurde. Dank einer ehemaligen Schulkollegin wurde sie im Wohnhaus Röschibach fündig und lebt nun seit 20 Jahren in ihrer Zürcher Wohnung. «Hier kann ich ein eigenständiges Leben führen. Ich habe zwar ein anstrengendes Leben, aber das lohnt sich», sagt die gesellige Luginbühl, die auch gern kulturelle Anlässe besucht oder ins Kino geht.

Sporadischer Assistenzdienst im Mehrfamilienhaus

Der Mietzins der Wohnungen liegt bei rund 1000 Franken. Das ist für die IV-Bezügerin, deren körperliche Einschränkungen aufgrund des Alters stetig zugenommen haben und mittlerweile keine Erwerbstätigkeit mehr zulässt, bezahlbar.

Im Mietzins enthalten ist auch die Nutzung eines Gemeinschaftsraums und ein sporadischer Assistenzdienst für kleinere Hilfdienstleistungen. «Diese bezahlbaren Wohnungen sind begehrt, und es steht nie eine Wohnung leer», weiss Luginbühl, die sich auch im Vorstand des Vereins Wohnhaus Röschibach engagiert.

Neues Projekt geplant

Der Verein wurde 1966 gegründet, um es Menschen mit einer Mobilitätsbehinderung zu ermöglichen, unabhängig und selbstbestimmt zu wohnen. Die Idee wurde unterstützt von der Dr. Stephan à Porta-Stiftung, welche dem Verein die Liegenschaft als Eigentümerin zu günstigen Konditionen vermietet.

Bis zu einer Gesetzesrevision 1993 erhielt das Wohnhaus Röschibach jährliche Betriebsbeiträge von der IV. Da das Angebot einem grossen Bedürfnis entsprach, beschloss der Verein, das Konzept selbsttragend weiterzuführen. Inzwischen nimmt der Verein aufgrund der grossen Nachfrage nach hindernisfreien und bezahlbaren Wohnungen, wiederum mit Unterstützung der Stiftung ein neues Projekt in Zürich in Angriff.

Voraussichtlich 2023 sollen sechs behindertengerechte Dreieinhalb- und vier Zweieinhalb-Zimmer-Wohnungen bewohnbar sein. Der Neubau der geplanten Liegenschaft gehört der Stiftung, die behindertengerechten baulichen Anpassungen in der Höhe von gegen 400'000 Franken, will der Verein mit Spenden finanzieren. Vereinspräsident Matyas Sagy-Kiss: «Mit diesem Projekt können wir auch Paaren oder Familien hindernisfreies Wohnen zu erträglichen Mietkonditionen an zentraler Lage ermöglichen.»

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