Professor Vetterli erklärt
Die Kuckuck-Wirtschaft

Martin Vetterli ist Präsident der EPFL in Lausanne und führender Experte für Digitalisierung. Jede Woche erklärt er Begriffe aus der digitalen Welt. Was ist «Kuckuck-Wirtschaft»?
Publiziert: 18.09.2018 um 15:37 Uhr
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Aktualisiert: 18.09.2018 um 11:44 Uhr
Martin Vetterli
Martin VetterliPräsident der EPFL Lausanne

Als ich vor Jahren im Wald spazieren ging, entdeckte ich einen Kuckuck. Dieser clevere Vogel legt nicht nur seine Eier in ein von anderen Vögeln gebautes Nest, sondern überlässt diesen auch die Aufzucht. Weil ich immer an der Digitalisierung rumdenke, fiel mir plötzlich auf, dass sich einige Akteure der New Economy wie Kuckucke verhalten.

Was bedeutet die Kuckuck-Wirtschaft?
 

Ich erkläre anhand eines Beispiels, was ich meine. Wenn Sie in Ihrer Stadt einen lokalen ­ Taxidienst in Anspruch nehmen, leisten Sie offensichtlich einen Beitrag zur lokalen Wirtschaft. Schliesslich geben Sie das Geld an Ort und Stelle aus. Wenn Sie allerdings am gleichen Ort ein Unternehmen wie Uber oder Lyft verwenden – wird das Geld auch an Ort und Stelle ausgegeben? Das Taxi ist eindeutig auch ein reales physisches Objekt in Ihrer Stadt, und Sie kommen am gleichen Ziel an, aber wohin fliesst das Geld?

Sie kennen die Antwort: In den obgenannten Fällen fliesst ein Teil des Gelds nach Kalifornien. Je nach Dienstleister fliesst mehr oder weniger Geld aus ­Ihrer Stadt. Uber nimmt einen Prozentsatz in Höhe von 20 bis 25, und andere digitale Dienstleister wie Airbnb nehmen 10 bis 20 Prozent. Wenn Sie ­davon ausgehen, dass alle Hotels der Schweiz eine Milliarde ­Franken erwirtschaften, würde das bedeuten, dass jedes Jahr Hunderte Millionen in die USA fliessen würden!

Google und Co. sind eine Herausforderung für die lokale Wirtschaft

In diesem Sinn verhalten sich die neuen Dienstleistungsangebote ein bisschen wie Kuckucke im digitalen Raum und schaffen eine Art «Kuckuck-Wirtschaft». Sie nisten eine simple Software-Anwendung in ein laufendes Wirtschaftssystem ein, die dieses optimiert; dafür aber saugen sie einen erheblichen Teil der Einnahmen ab. Und wie Kuckucke verwenden sie vorhandene ­physische Infrastrukturen und Technologien, beispielsweise Strassen, Telekommunikationsdienste, Autos und Hotels.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin ein Anhänger gut ­eingesetzter Technologie. Der Aufstieg digitaler Riesen wie Google, Amazon, Facebook und Apple bringt zahlreiche neue Dienstleistungen in unsere Gesellschaft. Allerdings möchte ich das zugrunde liegende Wirtschaftsmodell hervorheben, das sich ­zunehmend verbreitet und eine potenzielle Herausforderung für die lokale Wirtschaft ist.

Die Herausforderung für die Schweiz wird darin bestehen, langfristig die Kontrolle über die Innovationskette zu behalten und nicht zu einer Nation reiner Konsumenten einer neuen Digitalwirtschaft zu werden. ­Andernfalls könnten wir zwischen den ­obgenannten ­US-Giganten und den aufsteigenden Riesen des Ostens wie Baidu, Alibaba und Tencent steckenbleiben. Vielleicht müssen wir es so machen wie Indien unter Gandhi in den 30er-Jahren? Als er feststellte, dass in Indien produzierte Baumwolle zu niedrigen Preisen an die Briten verkauft wurde, die wiederum teure Hemden nach Indien verkauften, beschloss er, die Textilproduktion in Indien zu halten. Was also, wenn die grossen Datenmengen, die hier produziert werden, die Baumwolle des 21. Jahrhunderts wären und wir wieder die Kontrolle über unsere Daten übernehmen würden?

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