Basler Krebsforscher Michael N. Hall
«Ich wäre stolz, ein Schweizer ­Nobelpreis-
Träger zu sein»

Der Krebsforscher Michael N. Hall hat fast alle Preise gewonnen, die man in seiner Branche gewinnen kann – ausser dem Nobelpreis. Der Basler Biochemiker über den Traum vom ewigen Leben, die Zahlen 0046 und die Heilbarkeit von Krebs.
Publiziert: 20.01.2019 um 16:53 Uhr
|
Aktualisiert: 13.02.2019 um 11:50 Uhr
Professor Hall mit einem Modell des Enzyms Tor, welches er 1991 entdeckt hat. Tor kontrolliert das Wachstum von Zellen und damit auch von Krebszellen.
Foto: Thomas Meier
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Benno Tuchschmid
Benno TuchschmidCo-Ressortleiter Gesellschaft

Michael N. Hall, wie würden Sie einem zwölf Jahre alten Kind erklären, was Sie tun?
Okay, lassen Sie es mich versuchen. Mit zwölf Jahren ist man klein. Als Erwachsener ist man gross. Wie wird aus einem kleinen Menschen ein grosser? ­Indem er wächst. Aber nicht nur Körper, ­sondern auch Hirn, Leber, Niere wachsen. Dieses Wachstum muss koordiniert werden, damit nichts grösser wird, als es sein ­sollte. Die Kontrolleinheit für das Wachstum ist eine Zelle. Weiss ein Zwölfjähriger, was eine Zelle ist?

Ich denke schon. Sie selbst ­sagen, es ist die kleinste Form des Lebens.
Genau. Es ist die kleinste, ein­fachste Form des Lebens. Manche Organismen bestehen nur aus einer Zelle: Bakterien oder Hefe zum ­Beispiel. Sie dagegen bestehen aus Trillionen von Zellen.

Sie selbst haben die Zentrale, 
die das Wachstum koordiniert, entdeckt: das Enzym TOR.
Richtig. TOR sagt einer Zelle, wann sie wachsen, also sich teilen muss. In Pflanzen, in Tieren, in Menschen. Aber TOR bewirkt auch, dass Krebszellen wachsen. Krebs ist nichts anderes als das Wachstum von Zellen, die eigentlich nicht wachsen dürften.

Basler Forscher mit US-Wurzeln

Michael N. Hall (65) kam in Puerto Rico zur Welt. Er studierte in den USA zuerst Zoologie, promovierte dann an der Harvard University. 1987 kam Hall als ­Assistenzprofessor 
ans Biozentrum der Universität Basel, wo er seit 1992 als Professor für Biochemie lehrt und forscht. Halls Arbeiten haben das Verständnis von Zellwachstum grund­legend verändert und wichtige Anhaltspunkte für die Ent­wicklung neuartiger Krebsmedikamente ­geliefert. Das macht ihn zu einem Anwärter auf den Nobelpreis in Medizin. Heute hat Hall den Schweizer Pass. Er ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.

Michael N. Hall (65) kam in Puerto Rico zur Welt. Er studierte in den USA zuerst Zoologie, promovierte dann an der Harvard University. 1987 kam Hall als ­Assistenzprofessor 
ans Biozentrum der Universität Basel, wo er seit 1992 als Professor für Biochemie lehrt und forscht. Halls Arbeiten haben das Verständnis von Zellwachstum grund­legend verändert und wichtige Anhaltspunkte für die Ent­wicklung neuartiger Krebsmedikamente ­geliefert. Das macht ihn zu einem Anwärter auf den Nobelpreis in Medizin. Heute hat Hall den Schweizer Pass. Er ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.

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Und wie bringt uns Ihre ­Forschung der Heilung von 
Krebs näher?
Dank der Entdeckung von TOR ­wissen wir nun, das ein zentraler Mechanismus das Wachstum 
von Zellen kontrolliert. Das klingt lächerlich. Doch diese Erkenntnis ist zentral für die Biologie. Denn vorher dachte man, dass ein Organismus wächst, weil er sich ernährt, und wenn er sich nicht ernährt, dann wächst er nicht. Diese An­nahme war falsch. Heute ist klar: TOR ist der Schlüssel. Denn nur wenn wir das Zellwachstum ­be­einflussen können, lässt sich Krebs bekämpfen.

Wie lange geht es, bis aus 
diesem Wissen ein Medikament entsteht?
Wir entdeckten TOR 1991. Daraufhin starteten namhafte Pharmakonzerne ein Entwicklungsprogramm für ein Medikament. Mittlerweile werden einige davon in klinischen Studien ­getestet. Aber auch 28 Jahre nach der Entdeckung ist noch kein Medikament auf dem Markt.

Ist das nicht frustrierend?
Nein, im Gegenteil. Es gibt Fortschritte.

Wieso?
Wenn Sie daran denken, was alles passen muss, damit ein Medikament wirkt, ist es erstaunlich, dass es überhaupt Medikamente gibt.

Können Sie das näher erklären?
Ein Medikament muss die richtige Zelle zum richtigen Zeitpunkt mit der richtigen Menge eines Wirkstoffs treffen und darf keine Nebeneffekte haben. Das ist hochkomplex, und das zu entwickeln, braucht Zeit. Es ist ein Wunder, wenn es schliesslich funktioniert.

Wann werden wir Krebs heilen können?
Darauf gibt es eine optimistische und eine pessimistische Antwort.

Die optimistische zuerst, bitte.
Schon heute gibt es Therapien, die gewisse Krebsarten ­heilen können. Der letzte Nobelpreis für ­Medizin ging an Forscher, welche eine Immuntherapie entwickelten, die bei Hautkrebs in 20 Prozent aller Fälle Wirkung zeigt. Das ist ein ­tolles Resultat. Aber generell bin ich bezüglich der ab­soluten Heilung von Krebs eher pessimistisch.

Wieso?
Krebs ist eine intelligente Krankheit. Wird sie bekämpft, verändert sie sich. Und dann funktioniert das Medikament nicht mehr.

Das klingt nun wirklich ­pessimistisch!
Die gute Nachricht ist: Ich denke, wir werden Krebs irgendwann behandeln können wie andere chronische Krankheiten. Nehmen Sie Aids. Es gibt heute Menschen, die ihr ganzes Leben lang Aids-Medikamente nehmen und trotzdem ein mehr oder weniger normales Leben führen. Das wird bei Krebs hoffentlich auch möglich.

Noch erkranken in der Schweiz jährlich 40 000 Menschen an Krebs, 16 000 sterben daran. Wieso ist Krebs eine solche ­Gesellschaftskrankheit?
Weil wir länger leben als früher. 
Es ist eine Krankheit, die vor allem alte Menschen betrifft. Je länger sie leben, desto grösser die Gefahr.

Krebs heilen ist das eine. 
Aber was kann man tun, um ­keinen Krebs zu bekommen?
Die Anpassung des Lebensstils hat zu grossen Fortschritten geführt. Die grösste Veränderung betrifft das Rauchen. Erst entdeckte man, dass es Krebs verursacht, dann überzeugte man die Menschen, dass sie aufhören. Nicht alle, leider. Meine Tochter raucht, und ich ­halte es kaum aus, ihr zuzusehen, wenn sie eine Zigarette anzündet.

Ihr eigener Lebenswandel ist ­tadellos?
(lacht) Das würde ich nicht sagen. Ich mag ein gutes Glas Wein.

Aber das soll ja gesund sein.
Nun, das kommt auf die Menge an.

Wie wichtig sind für Sie als ­Forscher ethische Fragen?
Sehr wichtig. Wir Wissenschaftler produzieren kein Produkt. Wir ­kreieren keinen Umsatz. Wir bekommen Geld und geben es aus. Unsere Existenz basiert auf dem Vertrauen der Gesellschaft, die 
uns finanziert. Geht das Vertrauen verloren, dann funktioniert dieses Modell nicht mehr.

Wie kann es verloren gehen?
Vor einigen Monaten kam in China ein Crispr-Baby auf die Welt, ein Kind, dessen Erbgut von Wissenschaftlern wie in einem Baukastensystem zusammengesetzt wurde. Das ist schrecklich! Es verletzt jede ethische Norm, zu der wir uns als Wissenschaftler verpflichten. Das macht mich wütend. Kein Wissenschaftler sollte so etwas tun.

Es gibt aber auch komplexere Fragen: Krebsbehandlung ist teuer. Krebsforschung noch ­teurer. Doch von Krebs sind vor allem alte Menschen betroffen. Lohnt es sich, so viel Geld aus­zugeben für Menschen, die so oder so bald sterben?
Ich kann Ihnen darauf eine Antwort geben, aber sobald ich Krebs habe, gebe ich Ihnen wohl eine ­andere. Aber da ist noch ein anderes Problem: Medikamente ver­längern zwar das Leben. Manchmal ein paar Monate, manchmal ein halbes Jahr, selten mehr als fünf Jahre. Heilen tun sie die Krankheit aber nicht. Die Überlebenschancen von Krebspatienten haben sich in den letzten Jahrzehnten nicht gross verändert. Aber jeder, der ein Krebsmedikament nimmt, hofft, dass er die Ausnahme ist. Wir müssen Krebstherapien verbessern.

Das Wachstumskontroll-Enzym TOR spielt auch beim Alterungsprozess eine wichtige Rolle. Wie alt möchten Sie werden?
100. Aber nur, wenn ich gesund bleibe. Es geht nicht darum, die ­Lebenserwartung zu verlängern, sondern darum, länger gesund zu bleiben.

Aber ist das möglich?
Es ist das Ziel. Der Schlüssel dazu liegt bei TOR. Nur, wenn wir alle noch länger gesund bleiben und länger leben, dann tauchen ganz neue Fragen auf.

Überbevölkerung zum Beispiel.
Ja, oder die Altersvorsorge. Es gibt sogenannte Wissenschaftler, für mich sind sie keine, die behaupten, dass wir irgendwann 1000 Jahre ­leben. Das ist Unsinn. Wir sind ein physikalisches Wesen, und dazu ­gehört, dass wir irgendwann nicht mehr funktionieren. Das ist wie bei einem Gebäude oder bei einem Auto.

Sagen Ihnen die Zahlen 0046 ­etwas?
Ist das die Vorwahl von …

… Schweden. Genau. Sie gelten als Kandidat für den Nobelpreis. Wird bald eine Nummer mit ­dieser Vorwahl auf Ihrem ­Handy aufleuchten?
Diese Frage wurde mir schon so oft gestellt, zugegebenermassen noch nie so originell, aber trotzdem: Alle um mich scheinen sich damit mehr zu beschäftigen als ich. Ich habe viele Preise gewonnen, abgesehen vom Nobelpreis. Der Nobelpreis wird mich berühmt machen, entweder weil ich ihn bekomme, oder weil ich ihn nicht bekomme. Wenn ich ihn nicht bekomme, werde ich deswegen nicht unglücklich, so­lange man es nicht auf meinen Grabstein schreibt.

Sie kamen 1987 nach Basel. 
Wie war das damals?
Es war wie eine Zeitreise. Ich kam aus San Francisco, dem Zentrum der Technologie. Wenn ich aus ­Basel in die Vereinigten Staaten ­telefonieren wollte, musste mich ein Operateur verbinden. Es gab keine Direktwahl.

Ich nehme an, die Uni Basel 
hat sich verändert, sonst wären Sie nicht mehr hier.
Das Biozentrum, an dem ich arbeite, war schon damals ein Leuchtturm in der Finsternis. Aber ja, die Uni hat sich verändert. Heute bin ich überzeugt, dass ich an einem anderen Ort nicht denselben Erfolg gehabt hätte wie hier.

Die Schweiz hat gute Universi­täten, aber trotzdem schaut 
man neidisch in die USA. In den Rankings sind die ersten Plätze immer von amerikanischen Unis besetzt.
Die Schweiz hat acht Millionen Einwohner und wird in denselben ­Kategorien diskutiert wie die USA, obwohl sie da eigentlich von der Grösse her nichts zu suchen hat. Das verdanken wir der Schweizer Politik, welche Bildung, Forschung und Innovation auf äusserst intel­ligente Art und Weise finanziert. Und die Finanzierung ist sehr stabil. In den USA gibt es das nicht. Dort sind derzeit viele Forschungsarbeiten wegen des Shutdowns 
auf unbestimmte Zeit unterbrochen. Ich fühle ich mich hier wie ein Lotto-Gewinner.

In der Schweiz diskutieren wir derzeit intensiv über unsere ­Beziehungen zur EU. Teil dieser Beziehung ist das Horizon, ein Programm, das Forschungen ­finanziert. Auch in der Schweiz. Wie wichtig ist Horizon für Sie?
Extrem wichtig. Gerade bevor Sie reinkamen, bearbeitete ich einen Finanzierungsantrag. Wir bekommen viel Geld von den EU-Mil­lionen. Die Schweiz profitiert 
mehr davon, als wir finanziell ­reinstecken.

Wissenschaft ist politisiert. 
Nicht nur in den USA werden heute wissenschaftliche Fakten wie der Klimawandel bestritten. Spüren Sie das?
Hier nicht, nein. Aber in den USA ist es ein komplettes Desaster. Ich weiss nicht einmal, ob Trump einen wissenschaftlichen Berater hat. Nie hatte ein Präsident einen solchen nötiger als Trump, nie war einer weniger daran interessiert. Aber ganz ehrlich: Welcher Forscher mit Selbstachtung würde diesen Job annehmen?

Letzte Frage: Wenn Sie den ­Nobelpreis gewinnen würden, wäre das dann ein Schweizer ­Nobelpreis oder ein amerikanischer?
Nach so vielen Jahren fühle ich mich als Schweizer. Um also auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich wäre stolz darauf, ein Schweizer Nobelpreisträger zu sein. l

Für seine Errungenschaften auf dem ­Gebiet der Krebs­forschung erhält der Zellbiologe Michael N. Hall vom Biozentrum der Universität Basel den Charles Rodolphe Brupbacher Preis 2019. Die Charles ­Rodolphe Brupbacher Stiftung verleiht alle zwei Jahre den mit 100 000 Franken ­dotierten Preis für Krebsforschung an Wissenschaftler, die auf dem Gebiet der Grundlagenforschung hervorragende ­Leistungen erbracht haben.

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