Schriftsteller Lukas Bärfuss warnt vor Noise-Cancelling-Kopfhörer
«Die Isolation macht uns zu Soldaten»

Schriftsteller Lukas Bärfuss ist neuer
 Autor beim SonntagsBlick Magazin. Jeden zweiten Sonntag im Monat betrachtet er unsere Gesellschaft – durchaus kritisch!
Publiziert: 10.02.2019 um 09:09 Uhr
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Aktualisiert: 11.02.2019 um 10:22 Uhr
Lukas Bärfuss

Ein Mann in den besten Jahren mit einem Noise-Cancelling-Kopfhörer auf den Ohren wartet am Bahnhof auf den Zug. Auf seinem Gesicht liegt ein entrücktes ­Lächeln. Sein Blick ist im Nirgendwo, der Körper ohne Spannung. Kein Wunder: Er befindet sich in einer anderen Dimension, ein Astronaut in einer schalldichten Raumkapsel.

Die anderen Passagiere bemerkt er nicht. Spürt nicht, was sie tun, er weiss kaum, wo er sich befindet. Das Zugabteil ist sein Wohnzimmer geworden, wo er ungestört eine Serie schauen kann, zu seiner Küche, wo er das Nasi-Goreng vom Take-away verschlingt. Für sein Schmatzen und die anderen Körpergeräusche schämt er sich nicht – warum auch, er kann sich selbst nicht mehr hören. Gibt er Antwort? 
Atmet er? Ansprechbar ist er jedenfalls nicht. Auch Schreien würde nicht helfen. Wie ein Lotse auf der Landebahn müsste man ihm Zeichen geben, damit er reagiert. Ja, ein ganz und gar ort
loser, ein verlorener Mensch, getrennt von seiner Umwelt. Ein trauriger Anblick.

Der technische Fortschritt hat zu einem Rückfall in ein längst überwundenes Verhalten geführt. In seiner Regression ist der Mann ein Sinnbild unserer Zeit, ein Ausdruck dessen, woran das einundzwanzigste Jahrhundert krankt. Geräuschunterdrückende Kopfhörer zeugen von Isolation und Uniformierung, den grössten Feinden der Demokratie, und ihr Erfinder, ein amerikanischer Ingenieur namens Lawrence J. Fogel, steht exemplarisch für eine Ideologie, die uns Zeitgenossen gefangen hält und die Fundamente unserer Gesellschaft angreift.

Noise-Cancelling-Kopfhörer bedrohen die Demokratie.
Foto: Bose
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Die Maschine befiehlt, der Mensch folgt

Um zu verstehen, wie es so weit 
kommen konnte, dass ein Mensch sich freiwillig des Gehörsinns beraubt und von seiner Umwelt abkapselt, muss man weit in der Zeit zurückgehen. Im vergangenen Jahrhundert wurde das Menschenbild durch zwei Weltkriege und den nachfolgenden Kalten Krieg geprägt. Soziale Bewegungen versuchten, die Kultur des Krieges zu überwinden und friedliche Formen des 
Zusammenlebens zu entwickeln. Den Frauen, den Lesben, den Schwulen, den Behinderten und den Vaterlandslosen – also jenen, die von den Armeen immer zuerst ausgesondert wurden, verdanken wir die meisten gesellschaftlichen Fortschritte, aber leider erleben wir heute an vielen Orten eine Rückkehr jener Ideologie, die den Menschen zuerst als Soldaten begreift.

Um aus einem Zivilisten einen Soldaten zu formen, muss man ihm seine Individualität austreiben. Das betrifft nicht nur die Uniform, die Ausrüstung und die Waffen. Es betrifft den Menschen selbst, seine Sprache, die Gedanken und seine Gefühle. Die erste und wichtigste Massnahme ist die Trennung von seiner Umwelt. Man sperrt den Rekruten in eine Kaserne. Mit 
seiner Familie und seinen Freunden soll er keinen Umgang haben. Sie müssten ihn an seine Herkunft, seine Bindungen erinnern, und das würde die Verwandlung zum Soldaten behindern. Jede militärische Ausbildung steht und fällt mit der Information, über die ein Soldat verfügt. Alles, was ihn zweifeln lässt und seinen Willen behindern könnte, einen Befehl möglichst genau auszuführen, muss aus
geschaltet werden. Je komplexer der Befehl, umso rigider die Kontrolle und Kanalisierung der Information.

Lukas Bärfuss

Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, ­einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein ­Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.

Der in Thun BE geborene Lukas Bärfuss, ­einer der erfolgreichsten Literaten des Landes, gewann vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis. Werke wie «Hundert Tage» oder «Koala» machten ihn über die Schweiz hinaus bekannt; 2017 erschien sein ­Roman «Hagard». Bärfuss arbeitet auch als Theaterautor und Dramaturg; er setzt sich immer wieder polemisch mit seiner Heimat auseinander («Die Schweiz ist des Wahnsinns»). Seit 2015 gehört er der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. Er lebt in Zürich und Paris.

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Mit der Technologisierung kamen die Befehle immer seltener von den Offizieren und immer häufiger von Maschinen. Die Bedienung komplexer Waffensysteme wie Kampfjets erforderte eine vollständige Trennung von der Umwelt und eine totale Verschmelzung des Piloten mit seiner Maschine. Der Psychologe Franklin V. Taylor 
publizierte im Jahr 1957, mitten im Kalten Krieg, eine Studie unter dem 
Titel «Psychology and the Design of Machines». Darin beschreibt er den Soldaten als Operator, der ganz im Dienst der Maschine steht. Doch einerlei, ob die Maschine die Lösung einer Gleichung oder bloss das Drücken 
eines Knopfes verlangt: Die Maschine befiehlt, der Mensch folgt.

Wenn ein Flugzeug zum Beispiel eine Wolkenbank durchquert und der Pilot keine Möglichkeit hat, sich an einem fixen Punkt zu orientieren, ist es entscheidend, dass er nicht seiner Intuition, sondern dem künstlichen Horizont, den Instrumenten, der Maschine vertraut. 
Er muss seine Instinkte verraten und zu 
einem Teil der Maschine werden.

Für das Militär entwickelt

Auch geräuschunterdrückende Kopfhörer wurden in diesem Umfeld entwickelt. Lawrence J. Fogel, ein Ingenieur aus Brooklyn, New York, arbeitete nach seinem Studium für die US-Navy, wo er sich an der Entwicklung von Regulus, dem ersten seegestützten, atomwaffenfähigen Marschflugkörper beteiligte. Später stellte er sich in den Dienst der Waffenschmiede Convair, erfand das Kinalog, ein neuartiges Navigationssystem, und im Jahr 1954 meldete er das Verfahren der Geräuschunterdrückung zum Patent an, im Grunde eine einfache, naheliegende Technik.

Schall besteht aus Druckwellen. Ein Mikrofon misst den Umgebungslärm, danach wird eine Interferenz produziert. Ein identischer, allerdings phasenverschobener Gegendruck neutralisiert die Schallwellen. Sehr tiefe Töne können damit beinahe restlos, hohe zu einem grossen Teil eliminiert werden. Ziel war dabei allerdings nicht etwa der Komfort des Piloten, sondern die Verbesserung der sogenannten signal to noise ratio, also das Verhältnis zwischen erwünschter und störender Information. Störend waren alle direkten, ungefilterten Geräusche, jene, die die Maschine durch ihren Betrieb unabsichtlich produzierte. Erwünscht hingegen war jede Information, die das System dem Piloten kommunizieren wollte.

Nach einigen Jahren bei General 
Dynamics, einem Rüstungsmulti, der unter anderem das Kampfflugzeug F-16 und in der Schweiz das Einsatzfahrzeug Mowag herstellt, gründete Fogel schliesslich seine eigene Firma. Sie hat ihren Sitz in San Diego und 
besteht bis heute. Der Name dieser Firma? Natural Selection. Das ist bezeichnend, denn die entscheidende Erfindung, der Lawrence J. Fogel seine ganze Kraft widmete, war die Entwicklung des evolutionären Programmierens.

Fogel hatte die Idee, die Prinzipien der Evolution auf Computerprogramme anzuwenden. Fitness und Auslese waren die wichtigsten Parameter 
seiner Algorithmen. Die Computerprogramme sollten sich selbst optimieren, eine eigene, künstliche Intelligenz entwickeln. Ursprünglich für den Luftkampf entwickelt, wurde diese Technik später auf alle möglichen Systeme, 
militärische, ökonomische und wissenschaftliche, angewandt. Heute bietet Natural Selection seine Lösungen 
zynischerweise gleichzeitig der Gesundheits- und der Rüstungsindustrie an, also jenen, die heilen, und jenen, die töten wollen.

Zum horchen gehört das Gehorchen

Die Verbindung von militärischem und evolutionärem Denken ist typisch für unsere Zeit. Fitness und Isolation, die Verschmelzung mit den Maschinen, die ständige Angst, ausgemustert zu werden – dies alles gehört zum Grundgefühl im 21. Jahrhundert. Die Zurichtung des Menschen zu einem Soldaten, zum Krieger, ist weit gediehen. Der Hang zur Selbstoptimierung, die Vermessung der Lebensfunktionen, die Feier der Disziplin als Schlüssel zum Erfolg, dazu die weitreichenden Evaluationen in der Wirtschaft und den Behörden: Dies alles sind Symptome dieser Entwicklung.

Wir erleben eine Erosion der demokratischen Strukturen, auch weil wir die anderen zu häufig als Feinde begreifen, nicht als Angehörige, die man hört und denen man zuhört. Zum Horchen gehört das Gehorchen. Wer sich einen Noise-Cancelling-Kopfhörer aufsetzt, gehorcht der Maschine und nicht den Bedürfnissen seiner Umwelt. Er funktioniert im Sinne ihrer Logik, nicht nach den Massstäben des menschlichen Zusammenlebens.
Wer also daran denkt, sich einen solchen Kopfhörer zu besorgen, der möge daran denken, dass er sich Kriegsmaterial aufsetzt.

Es müsste so restriktiv behandelt werden wie Handgranaten und Maschinengewehre. Es zerstört keine Körper, sondern soziale Strukturen. Und wer den erwähnten Mann in seinen besten Jahren sieht, sollte sich vergegenwärtigen, dass er
 einen Operator, also einen Soldaten, vor sich hat. Sein Anblick? Traurig, gewiss, aber davon darf man sich nicht täuschen lassen. In erster Linie sind Soldaten nämlich gefährlich.

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