Mythos oder Realität?
Geheime Schwertduelle, Alkoholeskapaden und mächtige Männer

Riesige Netzwerke, Geschlechterdiskriminierung, Schikanen: Die Schweizer Studentenverbindungen sind nach wie vor eine ritualisierte und geschlossene Welt, in der die Eliten von gestern und morgen zu Hause sind. Mythos oder Realität? Blick lüftet den Schleier.
Publiziert: 22.08.2021 um 01:23 Uhr
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Aktualisiert: 23.08.2021 um 10:21 Uhr
Daniella Gorbunova

Dies ist das erste Mal, dass mir jemand gedroht hat, mich wegen Verleumdung zu verklagen. Und das auf Deutsch, einer Sprache, die ich als französischsprachige Person nur sehr wenig beherrsche. Je weiter meine Nachforschungen über die Studentenvereinigungen gingen, desto mehr fühlte ich mich wie in einer Miniaturversion von «House of Cards», nur noch folkloristischer.

Vor allem eine Aussage – die von Louis* (26) – hat nicht allen gefallen. Eine Studentenverbindung in Freiburg, die sich hauptsächlich aus Juristen zusammensetzt und gerne heimliche Fechtkämpfe austrägt, ist um ihren Ruf besorgt. Verletzte Ehre. Dies ist ein gutes Zeichen. Das sind die Regeln des Spiels. Ich hole den Prosecco raus (den für 8.95 Franken, ich bin Journalistin in Ausbildung).

Alles beginnt also mit Louis, den ich zufällig treffe. Er erzählt mir seine Geschichte und stellt mich dann einigen Freunden vor. Nach und nach wird mir klar, dass es sich hier nicht nur um einen fröhlichen Haufen junger Männer handelt, die sich nach Potenz sehnen und bereit sind, bei der geringsten Begeisterung in ihrer Trunkenheit zu dekorativen Degen zu greifen. Diese Studentenvereinigungen sind das Vorzimmer zu dem, was in Kevin Spaceys Sprache als Establishment bezeichnet wird.

Ticken die Studentenverbindungen heute immer noch so wie vor fast 80 Jahren? Hier salutieren 1943 Mitglieder der Zürcher Helvetia bei einer Jubiläumsfeier im Carlton Elite Hotel mit ihren Klingen.
Foto: Keystone
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«Als ich an die Universität kam, sah ich sie als die Elite der Elite an. Es gibt einen ganzen Mythos um Studentenverbindungen. Und der Networking-Effekt ist unbestreitbar: Man trifft wichtige Leute aus der ganzen Schweiz», erzählt mir Roger* (20), Jurastudent, der bis diesen Sommer Mitglied des Männervereins Zofingia war. Die Gesellschaft ist männlich, wie die meisten dieser Organisationen, die in vielen Städten der französischen und deutschen Schweiz Sektionen haben. Sie alle erfordern eine lebenslange Mitgliedschaft. Ein Blick auf die Mitgliederlisten zeigt eine gewisse Homogenität: Die meisten Mitglieder sind Männer schweizerischer Herkunft mit einer Ausbildung in Wirtschaft oder Recht. Die älteren Mitglieder haben glänzende Karrieren, die jüngeren scheinen auf jeden Fall dazu bestimmt zu sein.

Von heimlichen Fechtduellen bis hin zur Einflussnahme, von Geschlechterdiskriminierung bis hin zu Traditionen, die in der Geburtsstunde der modernen Schweiz wurzeln, habe ich mich in die sehr diskrete Welt dieser Gesellschaften eingeschlichen. Sind sie die letzten Garanten einer vom Aussterben bedrohten Schweizer Kultur? Oder sind sie einfach nur elitäre Netzwerke, Bastionen weisser cis-männlicher Privilegien?

«Es sind selten linke Leute»

«Die Schweizer Studentenverbindungen stehen ganz in der Tradition der deutschen Burschenschaft», sagt Charles Poncet, ein Rechtsanwalt, der 1964 der Gymnasia in Genf beitrat. Zunächst war die Burschenschaft ein sehr wichtiges patriotisches Element in der Verfassung Deutschlands unter Bismarck. Dann geriet sie in Verruf, weil sie das Nazi-Regime unterstützte. Heute gibt es noch welche in Deutschland und Österreich, und es sind selten Linke.

In der Schweiz wurde diese Tradition an die hiesigen Gepflogenheiten angepasst. Traditionell Föderalisten und Liberale, «ist die Mehrheit der Mitglieder jetzt konservativ. Es gibt allenfalls ein paar Progressive, aber eine Antifa wird es zum Beispiel in der Zofingia nie geben», sagt Roger.

Obwohl der Ruf der helvetischen Mitglieder nicht direkt durch das Dritte Reich geschädigt wurde, ist das historische Erbe immer noch sehr stark. Joachim* (23), ebenfalls ein junger Zofinger, bestätigt dies: «Wir sind heute sehr vorsichtig mit unseren Rekruten. Denn es hat bereits einige Vorfälle mit Rechtsextremisten gegeben. In den Nachkriegsjahren, aber auch in jüngerer Zeit.»

«Alles dank der Freunde»

Wissenschaft, Heimat, Freundschaft, Tugend – das sind alles grosse Werte, die als Aushängeschild gelten. Was die Mitglieder einer Studentenvereinigung verbindet, sind – abgesehen von den Trinkgelagen – die Traditionen, die Riten und der Gemeinschaftsgeist. Eine ganze gemeinsame Mythologie. Und ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit. «Es besteht kein Zweifel daran, dass es ein Element der Vernetzung gibt. Denn die Studentenverbindungen ermöglichen es den Menschen, sofort etwas Gemeinsames zu haben, etwas, woran sie sich festhalten können», betont Charles Poncet. Aber sie sind keine Freimaurer, auch wenn es unter den ersten Zofingern viele Freimaurer gab.

Damals schämte man sich weniger für seine Beziehungen. So wurde das Leben des jungen Poncet von den Gesellschaften um ihn herum geprägt. «Mein Vater war ein Salevianer. In Salevia gab es einen Mann, den wir Souris nannten. Er war die Nummer eins der Schweizer in Taiwan. Er hat dreissig Jahre lang die Beziehungen zwischen Taiwan und der Schweiz aufgebaut und geleitet. Alles dank der Freunde des Unternehmens», sagt der Anwalt. Bevor er uns eine Familiengeschichte anvertraut: «Mein Bruder war Praktikant in London, zu einer Zeit, als dies noch nicht üblich war, denn der Schweizer Botschafter war ein alter Salevianer wie unser Vater. Das war zu meiner Zeit auch so.»

Ein weiteres Beispiel für einen Einfluss, der über die Schweizer Grenzen hinausgeht: «Philippe Neeser, der gerade sein Jurastudium abgeschlossen und seinen Liebeskummer überwunden hatte, übernahm die Leitung von Ciba-Geigy in Japan, weil der Generalrat des Unternehmens ein alter Zofinger war», erzählt Poncet. Es sei daran erinnert, dass solche Privilegien immer noch weitgehend Männern vorbehalten sind: Weibliche und gemischte Studentenverbindungen sind in der Minderheit.

Heimliche Fechtkämpfe

Poncet: «In ihrem behelfsmässigen Hauptquartier gab es eine Art verstecktes Hinterzimmer. Unter den Fahnen und alten Gegenständen befanden sich auch Zeremoniedegen, die sie für die Graduierung ihrer Mitglieder verwendeten. Aber auch für gelegentliche Kämpfe und Initiationsriten.» Das war vor sechs Jahren. Zu dieser Zeit war Louis Jurastudent an der Universität Freiburg. Wie alle seine Kommilitonen war er in eine Welt eingetaucht, in der die Studentenverbindungen gut bekannt waren. Obwohl er selbst nie offiziell Mitglied war, waren alle seine Freunde Mitglieder. Er erzählt mir von seinem denkwürdigsten Abend in ihrer Gesellschaft.

Die studentische Männergesellschaft von Freiburg, Neu-Romania, lieferte sich gelegentlich hinter verschlossenen Türen Fechtkämpfe. Auch wenn es darum ging, neue Mitglieder zu schikanieren. Obwohl in den Statuten verboten, ist das Duellieren laut Louis immer noch Teil des Systems. Ein Übergangsritus, der einen für das ganze Leben prägt: «Wenn man sich verletzt, muss man dafür sorgen, dass die Narbe lange sichtbar bleibt, indem man sie zum Beispiel mit Salz bestreut. Es ist ein Zeichen der Zugehörigkeit, des Stolzes. Ich glaube, es ist ihr härtestes Training.»

Louis, der nur als Gast an der Szene teilnahm, hatte keine Narbe zu salzen. Er fügte jedoch jemand anderem eine Verletzung zu. «Es geschah in einem Restaurant in Freiburg, in der Nähe von Beauregard. Am Anfang war alles gut, es war schön. Plötzlich fingen zwei von ihnen an, über Fechtkämpfe zu reden. Wir waren ziemlich betrunken. Einer von ihnen hatte eine ziemlich grosse Klappe, und plötzlich überwältigte mich mein Ego. Ich sagte ihm, dass es mir nichts ausmachen würde, es zu versuchen, solange wir es für uns behielten. Die ganze Idee war, nicht verletzt zu werden. Es sollte eher ein Übungsspiel sein. Also nehmen wir die Degen. Wir halten Wache und beginnen, die Degen zu kreuzen. Am Anfang ist es ziemlich freundlich. Ich halte mich zurück. Er tut alles. Er bewegt sich im Wind, er holt alles ein, er zielt auf alles, nur nicht auf mich. Aber es ist trotzdem ein Kampf. Das Adrenalin, das Ego und das Testosteron steigen uns zu Kopf. Da ist dieser kleine Funke, dieser Moment der Veränderung: Plötzlich lachen wir nicht mehr. Wir werden sehr heiss. Ich verletze ihn an der Brust. Da ist Blut, aber nichts Dramatisches. Dann sagen die anderen, wir sollen aufhören.»

Bereut Louis rückblickend irgendetwas? «Ich will ehrlich sein: Es war ein Hahnenkampf.
Es war sinnlos und gefährlich. Wir hatten keinen Schutz, es hätte sehr schlimm enden können.»

*Namen der Redaktion bekannt

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