Die Schweiz als Vorbild gegen Missbrauch in Europa
Auch wenns unerträglich ist: Hinschauen!

Dass Kinder physisch, psychisch oder sexuell missbraucht werden, ist unerträglich. Und doch geschieht es jeden Tag. Die Schweiz macht vor, wie man mit dem Leid umgeht – damit es künftig verhindert werden kann.
Publiziert: 22.05.2022 um 13:51 Uhr
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Aktualisiert: 23.05.2022 um 10:20 Uhr
Missbrauch in Europa hat viele Gesichter: Mit der Ausstellung «Shame» machen Opfer wie Letisha aus Norwegen darauf aufmerksam.
Foto: Simone Padovani, Guido Fluri Stiftung
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Katja Richard

Es ist beinahe unerträglich, der Geschichte von Anita G.* zuzuhören. Immer wieder muss ich die Tränen zurückhalten, als mir die 57-Jährige erzählt, wie man ihr die Kindheit gestohlen hat, wie ihre Seele und ihr Körper mit dem Holzzoggel zerschlagen wurden. Das ist noch gar nicht lange her. Doch als Anita wegen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen fremdplatziert wird und der Pflegevater sich immer wieder an ihr vergeht, in den 70er-Jahren, greifen weder Vormund noch Behörden ein.

Am schlimmsten findet sie, dass alle Bescheid wussten, aber keiner hingeschaut, keiner geholfen hat. Einer, der heute hinschaut und handelt, ist Guido Fluri. Der Unternehmer hat 2016 die Wiedergutmachungs-Initiative lanciert und damit das Schicksal von Tausenden Kindern sichtbar gemacht, die in Heimen systematisch gezüchtigt, gedemütigt, oft sogar sexuell missbraucht wurden. Auf Bauernhöfen beutete man Zehntausende Kinder als billige Arbeitskräfte aus. Inzwischen weiss in der Schweiz jeder von dieser Ungerechtigkeit, kein Missbrauchsopfer soll sich mehr vor Scham verstecken und sein Leid verschweigen müssen.

Schweiz als Vorbild für Opfer in Europa

Damit hat die Schweiz eine Vorbildfunktion: Opfergruppen aus ganz Europa sind zusammengekommen und haben mit der Guido-Fluri-Stiftung die Justice Initiative lanciert. Ihr Ziel: Auch Betroffenen in anderen Ländern soll Gerechtigkeit widerfahren – durch die Anerkennung ihrer Geschichte, durch eine Form der Wiedergutmachung. Im Rahmen der Biennale in Venedig startet dazu jetzt die Ausstellung «Shame – European Stories». Mehr als 60 Frauen und Männer legen dort Zeugnis ab, darunter auch Anita G. Im Namen von Hunderttausenden von Opfern brechen sie das Schweigen und zeigen, wie viele Gesichter der Missbrauch hat, in der Kirche und anderen Institutionen, im Krieg, in der Familie ...

Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist wichtig für die Zukunft. Ganz besonders hinschauen aber muss man heute auch im virtuellen Raum. Jedes dritte Kind wird dort zu sexuellen Handlungen aufgefordert. Beängstigend: Während der Pandemie stieg die Nachfrage nach Material über sexuellen Kindsmissbrauch laut einer Analyse von Europol um bis zu 25 Prozent. Die Verbreitung im Internet vervielfältigt den Missbrauch exponentiell – ebenso den Schmerz der Opfer, deren Leiden für immer irgendwo im Netz hängen bleibt, was eine Aufarbeitung noch schwieriger macht.

Anita konnte mit vielem abschliessen. Liebe und Geborgenheit findet sie in ihrer Ehe mit Bernhard, einem ehemaligen Verdingbub. Aber die Narben der Schläge auf ihren Hinterkopf bleiben. Die in ihrem Inneren auch. Als ich sie nochmals anrufe, bedankt sie sich für das Feingefühl beim Gespräch. Danach habe sie eine Stunde lang duschen müssen. Ein Versuch, die Erinnerungen abzuspülen.

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