Foto: Thomas Meier

Walter Emmisberger
Der Mann, der Behörden und Pharmafirmen in die Knie zwang

An 3000 Menschen testete der Psychiater Roland Kuhn in Münsterlingen Pharma-Substanzen. Nun bekommen sie endlich eine Entschädigung. Das ist zum allergrössten Teil Walter Emmisberger zu verdanken. Zu Besuch bei einem Mann, den niemand kaputtmachen konnte.
Publiziert: 14.09.2024 um 11:42 Uhr
|
Aktualisiert: 14.09.2024 um 14:50 Uhr

Auf einen Blick

Die Zusammenfassung von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast.
tschuiquer.jpg
Silvia TschuiGesellschafts-Redaktorin

Walter Emmisberger (68) hat es dank einem über zehnjährigen Kampf geschafft, dass unzählige Menschen, die Opfer von Behördenwillkür wurden, wenn auch nicht zu ihrem Recht, dann doch zu einer Art Genugtuung gekommen sind. Zu 25'000 Franken, bezahlt vom Kanton Thurgau für die Opfer der Medikamententests in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen.

Zu Besuch an Emmisbergers Küchentisch in seiner hellen Attikawohnung in Fehraltdorf ZH drängen sich Fragen auf, die man nicht offen stellt, etwa: Inwiefern gibt es einen harten Kern einer Persönlichkeit, dem niemand etwas anhaben kann? Oder kann wiederkehrende Grausamkeit auch das Letzte in einem Menschen kaputtmachen?

Denn eigentlich, nur eigentlich, müsste vor mir ein gebrochener Mann sitzen. Das äussert sich in zögernden Pausen im Gespräch, in einem Tremor in der einen Hand, in der Aussage, dass ihn Gespräche wie dieses, das wir gerade führen, jeweils mindestens drei Tage kosten. Tage, in denen ihn das Gesagte beschäftige, in denen es ihm schlecht gehe.

Walter Emmisberger hat jahrzehntelang für sein Recht und für das Recht anderer gekämpft.
Foto: Thomas Meier
1/13

Die Folgen zeigen sich bis heute

Walter Emmisberger leidet unter wiederkehrenden Panikattacken, früher konnte er manchmal tagelang seine Wohnung nicht verlassen, manchmal wacht er heute noch schreiend und desorientiert aus Albträumen auf, will wegrennen und sich verstecken. Das hat Gründe. Wenn man sich vorstellt, was man sich als Mutter nie vorstellen will. Wenn man sich alles, wirklich alles erdenkliche Schreckliche vorstellt, das einem Kind und Jugendlichen nur zustossen kann, Emmisberger wurde es zugefügt. Immer und immer wieder und gleich nochmals von Neuem, mit dem Segen von Schweizer Behörden, Ärzten und der Kirche.

Die Stationen seiner Jugend: Kinderheime, bei verschiedenen Bauersleuten untergebracht, wo er hart arbeiten musste, und schliesslich bei Pfarrleuten in Aadorf TG. Das Schlimmste aber, das Allerschlimmste, sei die Klinik Münsterlingen im gleichnamigen Ort im Kanton Thurgau gewesen. Emmisberger wurde dem Arzt und Klinikdirektor Roland Kuhn (1912–2005) von den Pfarrleuten sozusagen «zur Verfügung gestellt», um die Wirkung von Chemikalien zu erproben. In der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen testete Kuhn von 1946 bis 1980 an rund 3000 (!) unwissenden Patienten und Patientinnen zum Teil aus Eigeninteresse, zum Teil im Auftrag diverser Pharmafirmen über 67 verschiedene unerprobte Substanzen. Sie wurden auch Kindern und Jugendlichen verabreicht, teilweise in absurd hohen Dosen, und, wie es aus den Akten ersichtlich wird, ziemlich nach dem Giesskannenprinzip und wild kombiniert.

Menschen wurden wie Versuchskaninchen behandelt

An Emmisberger allein wurden in den 1960er-Jahren sieben verschiedene Wirkstoffe getestet, über einen Zeitraum von zwei Jahren. Darunter ein Wirkstoff der Firma Ciba, der nie auf den Markt kam (Wirkstoff Nr. G22 150, «Ciba-Mittel»). Ein Wirkstoff mit Nummer G34 276, der 1972 als Antidepressivum Maprotilin oder Ludiomil für den Markt zugelassen wurde. Ein Wirkstoff mit Nummer G35 259, dessen Erprobung durch Geigy 1970 eingestellt wurde. Des Weiteren ein Antiepilepsie-Mittel, das heute unter dem Namen Tegretol auf dem Markt ist – obwohl ausdrücklich in den Akten steht, Walter Emmisberger sei kein Epileptiker. Ein weiteres Epilepsie-Medikament, das heute Luminaletten heisst, das Antidepressivum Anafranil, das hauptsächlich bei Zwangsstörungen zum Einsatz kommt, sowie ein weiteres Antidepressivum namens Tofranil, das auch bei Angst- und Panikstörungen verschrieben wird.

Die Liste der Nebenwirkungen der heute auf dem Markt existierenden Wirkstoffe ist lang, unter vielem anderem ist zu lesen: Herzrhythmusstörungen, Sprachstörungen, Benommenheit, Erinnerungslücken, Delirium, Übelkeit, Blutbildungsstörungen und Blutarmut, epileptische Anfälle, Sehstörungen, Zittern und Spasmen, Manie, Schlafstörungen, Schwindel, Schläfrigkeit, Suizidalität, bei Überdosis Tod. 36 der Patienten starben gemäss der 2019 erschienenen Studie «Testfall Münsterlingen» kurz nach Verabreichung der Substanzen, bei einigen Testpersonen halten die Nebenwirkungen bis heute an.

Behörden wiegelten jahrelang ab

Einige dieser Nebenwirkungen finden sich auch in Emmisbergers Akten dokumentiert. Vor diesen sitzt er bei meinem Besuch, es ist ein dickes Bündel, in dem in nüchterner Grausamkeit festgehalten ist, was ihm angetan wurde. Dass er es überhaupt vor sich liegen hat, ist eine eigene Geschichte. Emmisberger hat sich wiederholt bei historischen Archiven des Kantons Thurgau gemeldet und Akteneinsicht gefordert. Stets wurde ihm mitgeteilt, diese Akten seien nicht auffindbar. Erst als Emmisberger dies einem ehemaligen Schulkameraden, einem heutigen Anwalt, mitteilte, kam Schwung in die Sache: Ein Mitarbeiter der Kanzlei kreuzte mit den nötigen Vollmachten ausgestattet unangemeldet in der Klinik Münsterlingen direkt auf, erstritt sich Zutritt zum Gelände und fand dort im Keller abgelegt tatsächlich fünfundvierzig Kisten mit Akten von Tausenden von Patienten. Darunter auch Emmisbergers Geschichte. Dass diese Dokumente geborgen, gesichtet und schliesslich von drei Historikerinnen in der erschütternden Studie «Testfall Münsterlingen» aufgearbeitet werden konnten, ist Emmisbergers Hartnäckigkeit zu verdanken.

Was in seiner Akte steht, ist gleich mehrfach erschütternd: Zum einen sind da die Aussagen über den «Bub», die die Pfarrfrau gegenüber dem Arzt geäussert hat, etwa, er komme in der Schule kaum nach und sei müde, zeige eine schlechte Arbeitshaltung, sei apathisch, obwohl ihm der Lehrer eine gute Intelligenz bescheinige – was da aber natürlich nicht steht, ist, dass er gemäss Emmisbergers heutigen Aussagen von den Pfarrleuten täglich zu stundenlanger, harter Arbeit in Haushalt und Garten herangezogen wurde. In den Ferien wurde er zu Bauersleuten gebracht, wo er ebenfalls hart arbeiten musste. Emmisberger vermutet heute, dass die Pfarrleute dafür ein Entgelt einsackten. Und er nimmt an, dass man so auch gleich getestet hat, wie er unter Medikamenteneinfluss arbeiten konnte – oder eben nicht. Zu den Pfarrleuten noch so viel: Es gibt genügend Geschichten, was Kirchenleute Kindern in ihrer Obhut sonst noch alles Ungutes angetan haben, um es hier noch auszuschreiben.

Substanzen nach dem Giesskannenprinzip verabreicht

Anstatt Hilfe zu erhalten, bekam Emmisberger unerforschte Medikamente in rauen Mengen. «Man hat den Eindruck, er solle einfach noch mehr Medikamente nehmen», steht da etwa 1968 in den Akten, als er bereits regelmässig erbrechen musste, weil er eine Dosis von sechs Tabletten Ketotofranil nicht vertrug – der heutige, daraus abgeleitete Wirkstoff Trimipramin wirkt stark sedierend. Es wurde nun einfach noch 60 Milligramm des nicht näher eruierbaren Wirkstoffs «Ciba-Mittel» obendrauf verordnet. Da ist er zwölf Jahre alt. Als er aufgrund der starken Sedierung nicht mehr Velofahren konnte, und wegen eines Velounfalls mit einer Gehirnerschütterung im Spital landete, als sich «praktisch ungeschickt» anstellte, wurde das nicht etwa auf die Nebenwirkungen der Medikamente zurückgeführt, sondern es wurde stets dann halt ein anderer Wirkstoff verordnet oder obendrauf gegeben.

Sein Einverständnis hat Emmisberger nie gegeben. Wie auch Kuhns andere Patienten nicht: In einem erhaltenen Brief von Kuhn an einen Medizinhistoriker aus dem Jahr 1989 steht wörtlich: «Wir haben Patienten nie um ihre Einwilligung gefragt, ein Versuchspräparat einzunehmen.» Die Patienten stammten aus psychiatrischen Kliniken, aus Kinderheimen, bestanden aus Jugendlichen, die als schwererziehbar galten und deshalb in Erziehungsheimen arbeiten mussten, aus Verdingkindern, die ihren Eltern weggenommen wurden, aus Gefängnisinsassen – kurzum: Aus den Schwächsten der Gesellschaft.

Emmisberger kämpft zäh und gibt nicht auf

Die Aufarbeitung «Testfall Münsterlingen» zeigt zudem: Die damalige kantonale Sanitätsdirektion und der Regierungsrat wussten von den Versuchen. Sie waren voll auf der Linie Kuhns – der argumentierte seinerzeit, seine Versuche würden langfristig das kantonale Budget für Medikamente senken. Tatsächlich wurden in Münsterlingen kistenweise Gratiswirkstoffe von den Pharmafirmen angeliefert.

Emmisberger hat es jahrelang mit Schweizer Behörden, insbesondere denen des Kantons Thurgau, aufgenommen, und die hätten es nur allzu gern gehabt, hätte er aufgegeben, sich abspeisen lassen, einfach endlich Ruhe gegeben. Noch vor vier Jahren schloss der Kanton Thurgau eine Entschädigung für die Betroffenen kategorisch aus, wie ein Schreiben des damaligen Regierungsrats Walter Schönholzer (FDP) zeigt. Emmisberger gab aber nicht auf, schrieb Briefe, auf die es oft keine Antwort gibt, hinterliess Nachrichten an Politiker, richtete sich an die Medien, immer wieder. Nach der Absage des Regierungsrats reichte Emmisberger 2020 sofort bei Thurgauer Grünen- und SP-Politikern eine Interpellation ein, dass das Dossier nicht einfach geschlossen wird.

Im Juni dieses Jahres erfuhr er nun so etwas wie eine Anerkennung. 25'000 Franken erhalten alle Betroffenen vom Kanton Thurgau, die ehemalige Firma Ciba, heute Novartis, beteiligt sich mit vier Millionen Franken. Sofern sich die Betroffenen denn melden. Für Emmisberger ist das Ganze nur ein Teilsieg: «Vielen wurde das ganze Leben verpfuscht, dafür sind 25'000 Franken nicht viel. Und viele sind bereits gestorben.» Und: «Pharmafirmen scheffeln bis heute jährlich Millionengewinne mit den an uns getesteten Substanzen. Sie müssten viel, viel mehr bezahlen als vier Millionen», sagt Emmisberger. Ausserdem hätte er es nett gefunden, wenn bei der Ankündigung der Entschädigung irgendwo sein Name gefallen wäre.

Ein trotz allem gelungenes Leben

Walter Emmisberger beantwortet die eingangs stumm gestellte Frage genauso wortlos, einfach durch seine Geschichte, sein Leben und seine Taten: Ja, es gibt Menschen, die sich angesichts wiederkehrender Gewalt einen Kern an Persönlichkeit erhalten können, der unverbrüchlich, stark und eigen ist. Emmisberger, der nie eine Lehre machen konnte und doch immer gearbeitet hat, der zeitweise ein Transportgeschäft führte, führt ein gelungenes, reiches Leben: Er ist ein liebevoller Vater zweier erwachsener Töchter, ein genauso liebevoller Ehemann, ein in vielen Belangen – Musik, Handwerk, Gestaltung, Mechanik – kreativer, talentierter und äusserst produktiver Mensch.

Und er ist zäh, unglaublich zäh. Deshalb sitze ich in seiner Wohnung, und er setzt sich seiner eigenen Geschichte aus. Zum wiederholten Mal, auch wenn nach meinem Besuch eine Flutwelle über ihn rollt und er sich über drei Tage wieder in den Alltag zurückkämpfen muss. «Die Leute müssen wissen, was geschehen ist. Es ist wichtig», sagt Emmisberger, und seine Frau beginnt, Kohlräbli zu schälen – die Tochter kommt zum Znacht.


Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?