Vico Torrianis Leben als Buch
Südfrüchte im Radio, Kartoffelstock auf dem Teller

Vico Torriani wäre dieses Jahr hundert Jahre alt geworden geworden. Anlässlich des Jubiläums erscheint die erste Biografie über den erfolgreichen Schweizer Sänger und Entertainer. Es ist ein Dokument aus einer Zeit, als Glamour und Bünzlitum nahe beieinander lagen.
Publiziert: 12.09.2020 um 14:26 Uhr
Jonas Dreyfus

Ein Sommerabend im Jahr 1972. Vico Torriani steht an den Seefestspielen Mörbisch in Österreich singend auf einer venezianischen Gondel, die durch den Neusiedler See gleitet. Er tritt als einziger Sänger ohne Gesangsausbildung in der Operette «Eine Nacht in Venedig» von Johann Strauss auf. Dass seine Musik von intellektuellen Kreisen oft belächelt wird, kränkt ihn schon seit 1949, als er im Lied «Silberfäden» die grauen Haare seiner Mutter besang und damit seinen ersten Hit landete.

Vielleicht will er sich in diesem Moment etwas zu stark beweisen. Jedenfalls gerät er aus dem Gleichgewicht und fällt mit der Sopranistin, die an seiner Seite steht, ins Wasser. Ein Raunen geht durchs Publikum. Als die beiden durchnässt auf die Bühne klettern und weitersingen, bricht tosender Applaus aus. Nur Torrianis Ehefrau und Managerin Evelyne (1930–2010) ist ausser sich vor Wut. Was, wenn es deswegen schlechte Presse gibt?

Die Szene aus der Biografie «Vico Torriani – Ein Engadiner singt sich in die Welt» von Barbara Tänzler (53) steht vielleicht sinnbildlich für die Karriere des 1998 verstorbenen Schlagerstars, der am 21. September 2020 hundert Jahre alt geworden wäre. Torriani verkaufte 20 Millionen physische Tonträger – mehr als jeder andere Schweizer Musiker, sang Gassenhauer wie «Alles fährt Ski», spielte in Filmen wie «Gitarren der Liebe» mit, war Hauptfigur von «Hotel Victoria» – einer kulinarischen Fernsehshow mit Einschaltquoten von 70 Prozent – und bespielte ausverkaufte Tourneen, die ihn bis in die Sowjetunion führten. Kurz: Ein Superlativ jagte bei ihm den nächsten. Doch Missgunst und Häme warteten gleich um die Ecke. Und ständig diese eine Frage: Wie sauber darf ein Saubermann-Image sein, wenn der, der es pflegt, gleichzeitig nicht in Vergessenheit geraten will?

Vico Torriani als Gastgeber der Spielshow «Der goldene Schuss». Im Hintergrund Papagei Coco.
Foto: Alamy Stock Photo
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Als «Der goldene Schuss» noch keine unguten Assoziationen weckte

Wenn ein Star heute vor Publikum ins Wasser fallen würde, könnten wir uns dazu im Netz Fotos und Smartphone-Videos aus verschiedenen Blickwinkeln ansehen. Die Bild- und Filmdokumente, die Torrianis Leben dokumentieren, lagerten hingegen bisher grösstenteils in Kisten im Keller seiner Tochter Nicole Kündig (67) in Küsnacht ZH oder in Archiven von Fernsehanstalten.

Kündig, Initiantin der Biografie über ihren Vater, ordnete das Material in Zusammenarbeit mit der Autorin, sprach mit Zeitzeugen und beschaffte sich alle noch vorhandenen Aufnahmen von TV-Sendungen, in denen ihr Vater auftrat. Von «Der goldene Schuss», sagt sie, hätte es nur noch eine einzige Folge gegeben. «Alle anderen wurden gelöscht.» In der Spielshow mit dem Namen, der von einer Zeit vor Heroin-Epidemien zeugt, trat ihr Vater 1967 als Showmaster in Erscheinung. Es war die erste Farbsendung des ZDF.

Das Buch

Die Vernissage von «Vico Torriani – Ein Engadiner singt sich in die Welt» (NZZ Libro) von Barbara Tänzler findet am 19. September im Rahmen einer Gala zu Ehren seines 100. Geburtstags im Hotel Reine Victoria St. Moritz statt. Der Link zum Live-Stream wird auf laudinella.ch publiziert.

NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG

Die Vernissage von «Vico Torriani – Ein Engadiner singt sich in die Welt» (NZZ Libro) von Barbara Tänzler findet am 19. September im Rahmen einer Gala zu Ehren seines 100. Geburtstags im Hotel Reine Victoria St. Moritz statt. Der Link zum Live-Stream wird auf laudinella.ch publiziert.

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Die Biografie gibt einen relativ chronologischen Überblick auf ein Leben, in dem einiges passierte. Torriani zierte sich zu Lebzeiten, wenn es um Auskünfte über seine Vergangenheit ging. «Wir waren bitterarm» – so viel habe Vico Torriani einmal über seine Kinderjahre in St. Moritz gesagt, steht in der Biografie. Sie lebt von Details und Anekdoten, ohne am Mythos Torriani zu kratzen. Was das Beschriebene und die Aussagen von Zeitzeugen über ihn aussagen könnten – das muss sich der Lesende selbst zusammenreimen. Das macht die Lektüre nicht weniger spannend.

Italianità für die Nachkriegszeit

Vico Torriani – schon der Name klingt so gar nicht schweizerisch. Die unbeschwerte Art, mit der er auf der Bühne jede noch so lange Showtreppe hinabstieg, sein südländisches Aussehen mit dem schwarz gelockten Haar und dem dunklen Teint sowie der sanfte Kopf-Tenor – all das beflügelte die Sehnsucht der Schweizer nach einer Welt, die weniger verstockt und einengend war als die ihres Heimatlands in der Nachkriegszeit. «Es war die Zeit, die ihn gross gemacht hat», sagt Kündig.

Noch besser kam seine «Italianità» in Deutschland an. «Addio, Donna Grazia» hiess dort sein erster Hit, der in kurzer Zeit mehr als 500'000 Mal in Form von Schallplatten über den Ladentisch ging. Es folgten Songs, die vor Romantik nur so trieften. Sie hiessen «Grüss mir die Damen aus der Bar», «Verlieb dich in Lissabon» oder «Mannequin aus Paris».

Mit «Kalkutta liegt am Ganges» landete Torriani seinen grössten Hit. Mit «Ananas aus Caracas» besang er im Radio die damals exotischste aller Früchte, während seine Zuhörer dazu in ihren Küchen ihren Kartoffelstock mampften. Viele Texte der damaligen Popmusik würden heute Shitstorms produzieren. «Schön und kaffeebraun» heisst eine Single von Torriani. Die Handlung: Zwei Männer, Jimmy und Johny, betrinken sich in Kingston mit Rum und besingen die Schönheit der Jamaikanerinnen.

Seit Kindheit gewöhnt an die High Society

Das Geschlecht Torriani stammt aus dem Bergell. Mit seinem Vater, der als Stallbursche arbeitete, sprachen er und seine Geschwister italienisch, mit seiner Westschweizer Mutter – sie war als «femme de chambre» tätig – französisch. Und in der Schule schweizerdeutsch. In der High Society, die sich im Oberengadin tummelte, lernte er gemäss Biografie «einen völlig unbeschwerten Umgang mit den Prominenten und Reichen».

Doch Torriani hatte auch Schicksalsschläge zu verarbeiten: Im Buch wird ein schwerer Unfall mit einem undichten Flammenwerfer aufgerollt, der Torriani während des Zweiten Weltkriegs als Füsilier der Schweizer Armee in Mitleidenschaft zog. Die Brandverletzungen hinterliessen tiefe Narben auf seiner rechten Hals- und Gesichtsseite, was offenbar der Grund dafür war, dass er sich später fast immer von links oder vorne fotografieren liess.

Anschliessend erkrankte er auch noch an Tuberkulose und verbrachte volle zwei Jahre im Lazarett in Arosa. «Ich dachte immer, dass er dort zum ersten Mal aus Langeweile zu singen begann», sagt Kündig. Während der Recherche erfuhr sie jedoch, dass er bereits als 17-Jähriger an der Seite seines Vaters als Teil einer Jodelgruppe namens The Wonder Child Yodellers in London auftrat. Die Yodellers waren offenbar Teil einer Veranstaltung im Coliseum, die St. Moritz als Thema hatte. Kündig: «Bei der Recherche zum Buch kam ich manchmal nicht mehr aus dem Staunen heraus.»

Ähnlich dürfte es vor allem den Leserinnen und Lesern gehen, die die 50er- und 60er-Jahre nur vom Hörensagen kennen. Torriani sammelte in Zürcher Restaurants, Bars und sogenannten Dancings erste Bühnenerfahrung. Die Beschreibung dieser Welt erweckt im ersten Moment den Eindruck, als wäre Zürich damals eine einzige Party gewesen. Bald wird klar, dass die Zeit, die fürs Vergnügen vorgesehen war, nie lange dauerte. Vor allem die Polizeistunde bereitete jeder Art von Spass früh ein Ende.

Die Heirat muss erst mal verheimlicht werden

Sowieso lagen Glamour und Bünzlitum nahe beieinander. So verschwieg Torriani zum Beispiel die Heirat mit Evelyne und die Geburt von Tochter Nicole drei Jahre lang, weil die Scheidung mit seiner ersten Frau noch nicht offiziell war. Nur so habe er die Moralvorstellungen der 50er-Jahre austricksen können, steht im Buch. Zu seinem Job als Gastgeber der Show «Der goldene Schuss» kam Torriani, weil sich sein Vorgänger auf ein Verhältnis mit seiner Assistentin eingelassen hatte. «Die Visitenkarte des ZDF wurde beschmutzt. Sie muss und soll sauber bleiben», hiess es im Statement des damaligen Intendanten des Senders.

Die Stelle, in der die Show im Buch beschrieben wird, lässt erahnen, wie verkrampft es damals zu und her ging: «Mit enorm viel Ernst und Spannung im Gesicht liessen sich gestandene Herren in Anzug und Frauen im knielangen Kleid auf die Bühne bitten, wo sie sich, ohne mit der Wimper zu zucken, auf Wurfspiele und vergleichbare Aktivitäten einliessen, die aus heutiger Sicht reichlich unbedarft wirken. Anschliessend ging es an die Armbrust, während Papagei Coco im Hintergrund ein anerkennendes ‹Ja› oder ‹Vorsicht!› krächzte.»

Schwierig vorstellbar aus heutiger Sicht ist auch der Umstand, dass Torriani Ende der 50er-Jahre aufgrund seiner süffigen Songs angefeindet wurde. Einmal störten zum Beispiel 50 Gymnasiasten einen Auftritt in Ravensburg (Deutschland), indem sie Tomaten und Stinkbomben warfen und «Schmalz, Schmalz» skandierten. Das war wohlgemerkt weit vor den ersten Studentenunruhen und vor Torrianis Auftritten in ehemaligen Ostblockländern, mit denen er sich in der Schweiz viele Feinde machte.

Comeback mit volkstümlichem Schlager

Mitte der 60er-Jahre liess das Interesse an Torrianis Musik nach. Ab den 70er-Jahren führte er in Agno am Luganersee ein entschleunigtes Leben, um dann 1976 mit «La Pastorella» (Die Schäferin) nochmals richtig durchzustarten.

Hier beginnt auch der Teil des Buches, der nicht mehr als Zeitdokument funktioniert, weil Torrianis neuer Musikstil zu nahe an dem ist, was wir heute als volkstümlichen Schlager im Stil von Interpreten wie Francine Jordi (43) kennen. Auch sprachlich nähert sich die Biografie im zweiten Teil dem Pathos dieses Genres an, wenn zum Beispiel steht: «Vico Torriani hatte nach fünfjähriger Mussezeit seinen Weg gefunden, um sich noch weitere 20 Jahre auf der Bühne zu zeigen.» Sicher ist: Vico Torriani, auch bekannt als «Alpen-Sinatra», «männliche Alpenrose» und «Troubadour der Liebe», hätte sich an solchen Formulierungen nicht gestört.

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