Vorwärts in die Vergangenheit
Hier regieren heute noch die Ritter

Ritter, Recken und Prinzessinnen an allen Orten: Mittelalterspektakel ziehen Besucher in Scharen an. Doch sie verraten mehr über unsere Wünsche als über die Historie.
Publiziert: 25.06.2015 um 14:07 Uhr
|
Aktualisiert: 10.09.2018 um 13:35 Uhr
Der Traum von einer längst vergangenen Zeit: Ritterspiele in Hinwil ZH am 30. Mai 2015.
Foto: Christian Bauer, fetemedieval.ch, Heidi Hostettler
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Von Christian Bauer

Ursina lebt im Mittelalter. Die robuste Mittzwanzigerin sieht aus wie eine Magd von einst: sackartiges Gewand, Amulette um den Hals, Trinkhorn am Gürtel, offene Lederschuhe. Wäre da nicht die Zigarette in ihrer Hand, könnte man meinen, sie habe sich vom Jahr 1000 direkt ins Heute katapultiert.

«Zigaretten gab es damals noch nicht, aber hier bei den Abfalleimern ist die Gegenwart», sagt Ursina und schmunzelt. Auf einer kleinen Wiese in Hinwil ZH regiert dieses Wochenende das Mittelalter – inklusive Schlachtengemetzel, Ritterturniere, Schröpfbehandlungen und Bardengesänge. Und streng genommen ohne Zigaretten, Kartoffeln und Isomatratze. Aber im 21. Jahrhundert gibts das finstere Mittelalter mit ein wenig ­Luxus.

Das Mittelalterspektakel von Hinwil, organisiert vom Verein Turnei, ist eines der grössten seiner Art in der Schweiz. Das Konzept ist einfach: Kostümierte Vergangenheits-Fans stellen ein mittelalterliches Lagerleben dar, campieren in altertümlichen Zelten, brutzeln ihren Znacht auf offenem Feuer und bekämpfen sich mit Schwert und Morgenstern vor den sehnsüchtigen Augen der Besucher. Typisch Mittelalter! Oder doch nicht?

In Deutschland spielte «Der Medicus» 50 Millionen Euro ein

Das Spektakel von Hinwil ist bei weitem nicht das einzige. In den Sommermonaten reiht sich ein Historienevent an den nächsten (siehe Veranstaltungskalender auf Seite 8). Und die Menschen strömen zu Tausenden herbei: In Hinwil zählt man dieses Jahr 12'000 Besucher, zum Handwerkermarkt auf der Lenzburg AG kommen jährlich rund 8500 Mittelalterbegeisterte.

Das finstere Zeitalter ist hip und sorgt für klingelnde Kassen: In allen Unterhaltungssparten kreuchen und fleuchen Edelfräuleins und unerschrockene Recken über Bildschirme und Buchseiten. Die kleine deutsche Filmproduktion «Der Medicus» (angesiedelt im 11. Jahrhundert) spielte alleine in Deutschland knapp 50 Millionen Euro ein.

Das freilich ist nichts im Vergleich zur grössten Mittelalter-Fantasy-Saga des 21. Jahrhunderts: Die «Herr der Ringe»-Trilogie brachte mehr als zwei Milliarden Dollar ein. Vorlage der Blockbuster waren die gleichnamigen Fantasy-Romane von J. R. R. Tolkien, der die Story nachweislich mit europäischen Mittelalterlegenden aufpeppte. Und wenn Cersei Lannister in der neuen Staffel von «Game of ­Thrones» ihre Intrigen spinnt, tut sie das in einer Mittelalter-Welt.

Das Mittelalter – was ist das ­eigentlich? Der Begriff ist eine abschätzige Bezeichnung aus dem 15. Jahrhundert und umspannt die gigantische Zeitspanne von tausend Jahren – von 500 bis 1500 nach Christus. Anfang und Ende der Kulturepoche verlieren sich im nebligen Dunst der Vergangenheit: Nach dem Zusammenbruch des römischen Imperiums (478 n. Chr.) endete die Antike und das Mittelalter schrieb Geschichte. Der Zeitabschnitt verebbte schliesslich zwischen Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks (1455), der Entdeckung Amerikas 1492 durch Kolumbus und den 95 Thesen Luthers 1517, mit denen die Reformation begann.

Das Europa um 500 hatte keine Ähnlichkeit mit dem Europa um 1500 – dazwischen lagen das Reich Karls des Grossen, die Gründungen mächtiger Klöster, die Kreuzzüge und die Pestepidemien. All das veränderte den Kontinent sehr.

«Gegenbild einer idyllisch heilen Welt von früher»

Das Mittelalter blitzt aber nicht nur an den gegenwärtigen Spektakeln auf, es ist präsent in unserem Alltag: Universitäten, die Zahl 0, die Stadt, die Brille sind alles Erfindungen des Mittelalters. Auch in unserer Sprache sind wir noch Ritter und Prinzessinnen: Bei Ihnen ist alles in Butter? Das Sprichwort stammt von den Händlern, die wertvolles Glas in Butterfässern transportierten. Sie legen gerne einen Zahn zu? Beim Braten im Kamin war der Rost mit einer Kette an Eisenzähnen befestigt. Wollte man mehr Hitze, legte man einen Zahn zu.

Das Mittelalter lebt! Und nun nur noch edelmütige Ritter, trutzige Burgen, verliebte Minnesänger, sündige Mönche und Ketzerverfolgungen – fertig ist der typische neuzeitliche Mittelalterevent. Das ist stimmig und gleichzeitig falsch. Denn das Mittelalter aus Literatur, Film und Weekend-Spektakel ist ein Fake.

Erfunden wurde das Mittelalter, das wir heute so lieben, in der Zeit der Romantik im 19. Jahrhundert. Mit Beginn der industriellen Revolution und ihren negativen Auswirkungen – schlechte Arbeitsbedingungen, Umweltverschmutzung – sehnten sich die Menschen nach einer heilen Welt. «Industriegesellschaften brauchen das Gegenbild einer angeblich idyllischen heilen Welt von früher», sagt Valentin Groebner, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Luzern. «Wir brauchen das auch, also wünschen wir uns das Mittelalter.»

Im 19. Jahrhundert erfand man das Mittelalter als «romantisch-erotisch-sentimentalen Themenpark» (Groebner), in dem man all seine Sehnsüchte befriedigen konnte. Romane, Theaterstücke, nachgestellte Schlachten verklärten das Mittelalter zu einer paradiesischen Zeit. «Wir haben das 19. Jahrhundert mit seinen Mittelalterträumen von edlen Rittern und vom vermeintlich ursprünglich-einfachen Leben von Bauern und Mönchen nicht verlassen», sagt Groebner.

Martin Suter, der Organisator des Mittelalterspektakels in Hinwil, sieht es realistischer: «Was wir hier machen, ist Show – wir zeigen nur den schönen Teil des Mittelalters.» Der SVP-Wahlkampfleiter des Kantons Zürich und Mittelalter-Fan mietet für sein alle zwei Jahre stattfindendes Spektakel Gruppen und Akteure, die sich auf die Darstellung mittelalterlichen Lebens spezialisiert haben.

Ein solcher Verein sind die Comites Feriati, die feiernden Gefährten, die ein Lagerleben der damaligen Zeit nachstellen: Auf den grossen Holztischen liegen grobe Messer und Trinkhörner, Schwerter stehen in einer Ecke, über einem Feuer hängt ein riesiger Kessel.

«Darin machen wir gerade das Spülwasser heiss», sagt Janine Löffelmann, Vizepräsidentin des Vereins. Und sie gibt unumwunden zu: «Natürlich ist das hier eine Show für die Besucher, aber wir lieben das einfache Mittelalter-Camping.»

Ein Verlangen nach dem Ursprünglichen

Thomas Rorato, Kurator des Museums Aargau, der mit grossem Erfolg den Mittelaltermarkt auf der Burg Lenzburg AG organisiert, sieht eine Verbindung zum technisierten Leben unserer Zeit. «Die Menschen haben ein Verlangen nach Ursprünglichem, nach grundlegenden Sinneserfahrungen.» Das empfindet auch Event-Organisator Suter: «Wenn abends die Lagerfeuer glimmen und Musik durch das Lager weht, das ist schon sehr schön.»

Das Neuzeit-Mittelalter ist freilich zu schön und zu sauber im Vergleich zum Original. «Der wirkliche Alltag im Mittelalter war weder schön noch pittoresk, sondern geprägt von extremen Ungleichheiten, Krankheit, Armut und Gewalt. Wie verlockend klingt das für Sie?», fragt Valentin Groebner.

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Wichtige Stationen des Mittelalters

476
Das Römische Reich kann im 5. Jahrhundert den eindrin­genden Völkern (Völkerwanderung) kaum noch Widerstand leisten. 476 dankt der letzte west­römische Kaiser ab. Das Ende der alten ­Ordnung ist besiegelt.

529
Benedikt von Nursia gründet auf dem Monte Cassino bei Neapel das erste europäische Kloster. Seine Klosterregel wird zur Grundlage für weitere Ordensgründungen. Die Mönche prägen das Mittelalter sehr.

622
Der Prophet ­Mohammed (570–632), der den Islam begründet hat, flieht von Mekka nach Medina. Dies gilt als Jahr eins der Islamischen Zeitrechnung. Der Islam beeinflusst das europäische Geistesleben.

711
Die muslimischen Mauren besetzen die Iberische Halbinsel und drängen langsam nach Norden vor. 21 Jahre später besiegt Karl Martell die Mauren in Südfrankreich und stoppt damit die Islamisierung Europas.

800
Karl der Grosse wird in Rom zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt. Es ist das Nachfolgegebilde des antiken Römischen Reiches und existiert bis zur Kaiserkrönung Napoleons 1804.

1066
Der normannische Herzog Wilhelm der Eroberer nimmt England bei der Schlacht von Hastings ein. Er wird zum englischen König Wilhelm I. gekrönt. Der ­normannische Einfluss verändert die englische Kultur.

1099
Am 14. Juli richten die Kreuzfahrer des ersten Kreuzzugs in Jerusalem ein Blutbad an. Die Brutalität der Kreuzfahrer (bis 1291) beeinflusst das Verhältnis zwischen dem Nahen Osten und Europa auf lange Zeit.

1291
Die Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden vereinbaren im Bundesbrief die Wahrung des Landfriedens. Der Bundesbrief (Bild, ein Vertrag von vielen in der damaligen Zeit) gilt als Gründungsdokument der Eidgenossenschaft.

1347
Der Schwarze Tod, die Pest, tötet etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung (ca. 25 Millionen Menschen). Das hatte auf lange Sicht einen positiven Effekt auf die Hygienestandards in Europa.

1389
Bei der entscheidenden Schlacht bei Sempach können die ­Eidgenossen einen wichtigen Sieg gegen die Habsburger ­erringen. Dadurch verfestigen die Schweizer ihre Freiheit gegenüber den Besatzern.

1414
Beim Konzil von Konstanz wird das grosse Abendlän­dische Schisma beigelegt (die gleichzeitige Existenz dreier Päpste). Ein Nebeneffekt ist die Eroberung des Aargaus durch die Berner (1415).

1455
Johannes Gutenberg erfindet im deutschen Mainz den Buchdruck. Das leitet eine Medienrevolution ein: Bücher werden billiger und Wissen sowie neue Ideen werden für eine breite Masse zugänglich.

1492
Der italienische ­Seefahrer Christoph Kolumbus entdeckt Amerika. Europa (Portugal, Spanien, England, Frankreich) wird zur Kolonialmacht. Neue Pflanzen ­(Tomaten, Mais, Kartoffeln) verändern die Ernährung.

Keystone

476
Das Römische Reich kann im 5. Jahrhundert den eindrin­genden Völkern (Völkerwanderung) kaum noch Widerstand leisten. 476 dankt der letzte west­römische Kaiser ab. Das Ende der alten ­Ordnung ist besiegelt.

529
Benedikt von Nursia gründet auf dem Monte Cassino bei Neapel das erste europäische Kloster. Seine Klosterregel wird zur Grundlage für weitere Ordensgründungen. Die Mönche prägen das Mittelalter sehr.

622
Der Prophet ­Mohammed (570–632), der den Islam begründet hat, flieht von Mekka nach Medina. Dies gilt als Jahr eins der Islamischen Zeitrechnung. Der Islam beeinflusst das europäische Geistesleben.

711
Die muslimischen Mauren besetzen die Iberische Halbinsel und drängen langsam nach Norden vor. 21 Jahre später besiegt Karl Martell die Mauren in Südfrankreich und stoppt damit die Islamisierung Europas.

800
Karl der Grosse wird in Rom zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt. Es ist das Nachfolgegebilde des antiken Römischen Reiches und existiert bis zur Kaiserkrönung Napoleons 1804.

1066
Der normannische Herzog Wilhelm der Eroberer nimmt England bei der Schlacht von Hastings ein. Er wird zum englischen König Wilhelm I. gekrönt. Der ­normannische Einfluss verändert die englische Kultur.

1099
Am 14. Juli richten die Kreuzfahrer des ersten Kreuzzugs in Jerusalem ein Blutbad an. Die Brutalität der Kreuzfahrer (bis 1291) beeinflusst das Verhältnis zwischen dem Nahen Osten und Europa auf lange Zeit.

1291
Die Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden vereinbaren im Bundesbrief die Wahrung des Landfriedens. Der Bundesbrief (Bild, ein Vertrag von vielen in der damaligen Zeit) gilt als Gründungsdokument der Eidgenossenschaft.

1347
Der Schwarze Tod, die Pest, tötet etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung (ca. 25 Millionen Menschen). Das hatte auf lange Sicht einen positiven Effekt auf die Hygienestandards in Europa.

1389
Bei der entscheidenden Schlacht bei Sempach können die ­Eidgenossen einen wichtigen Sieg gegen die Habsburger ­erringen. Dadurch verfestigen die Schweizer ihre Freiheit gegenüber den Besatzern.

1414
Beim Konzil von Konstanz wird das grosse Abendlän­dische Schisma beigelegt (die gleichzeitige Existenz dreier Päpste). Ein Nebeneffekt ist die Eroberung des Aargaus durch die Berner (1415).

1455
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1492
Der italienische ­Seefahrer Christoph Kolumbus entdeckt Amerika. Europa (Portugal, Spanien, England, Frankreich) wird zur Kolonialmacht. Neue Pflanzen ­(Tomaten, Mais, Kartoffeln) verändern die Ernährung.

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