«Wandern ist alpiner Buddhismus»
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Interview mit Thomas Widmer:«Wandern ist alpiner Buddhismus»

Interview mit Wanderexperte Thomas Widmer
«Wandern ist alpiner Buddhismus»

Er gilt als Wanderpapst, kennt alle Winkel des Landes: Der Autor Thomas Widmer (58) hat nun kuriose Wörter, die er dabei aufschnappt, in einem Buch gesammelt. Im Küsnachter Tobel ZH gibt er Wander-Tipps und verrät, warum man mit dem Wort Papizeit Stimmen holt.
Publiziert: 31.05.2021 um 17:14 Uhr
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Aktualisiert: 14.03.2022 um 13:48 Uhr
Thomas Widmer (58) ist Autor und leidenschaftliche Wanderer. Er sammelt zudem seit jeher komische Wörter und Wendungen. Diesen hat er ein Buch gewidmet.
Foto: Anja Wurm
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Interview: Rebecca Wyss

Herr Widmer, was haben Sie heute an Proviant dabei?
Thomas Widmer: Wasser, einen Schokoriegel und Traubenzucker, für den Fall, dass der Blutzuckerspiegel absinkt. Mehr brauche ich nicht. Ich kehre lieber in einem Restaurant ein.

Wandern fängt mit Gehen an – etwas ganz Banalem. Was ist anders beim Wandern als beim Gang zur Bushaltestelle?
Wenn ich in den Coop gehe, will ich das Einkaufen schnell hinter mich bringen. Beim Wandern schaue ich, was der Tag bringt. Man erlebt ja so viel, auch Überraschungen. Vor zwei Wochen wanderte ich von Malters nach Luzern und stiess auf das Château Gütsch. Ein Hotel, ein Fantasieschlösschen, das dem russischen Oligarchen Alexander Lebedew gehört, einem Putin-Widersacher!

Man lernt also so einiges.
Ja, auch über den Zustand der Schweiz. Wie viel verbaut wird, im Talkessel von Schwyz zum Beispiel viel. Oder wie es den Bauern geht. Heute kann man bei jedem zweiten Hof frische Eier, Fleisch oder Süssmost kaufen. Die Bauern sind super Selbstvermarkter geworden, weil sie mussten. Hier fängt übrigens das Küsnachter Tobel an. Dieser Dorfbach sieht harmlos aus, dabei ist er ein Monstrum.

Warum das?
1778 hat er in einer Nacht 63 Menschen umgebracht.

Und heute spazieren wir in aller Seelenruhe daran vorbei. Verrückt. Wie oft sind Sie eigentlich unterwegs?
Zweimal pro Woche. Fix jeden Samstag mit meiner Wandergruppe, bei jedem Wetter.

Immer die gleichen Leute?
Ja. Man gewöhnt sich besser aneinander. Mit der Zeit weiss man, wer speziell tickt, wie man einander nehmen muss. Überhaupt entstehen beim Wandern Freundschaften. Man redet über Persönliches und kommt sich durch Krisen näher. Wenn ein Gewitter aufzieht, einem aus der Gruppe übel wird oder einer sich den Knöchel verstaucht.

Der Wanderer

Thomas Widmer wurde 1962 in Stein AR geboren. Lange war nicht absehbar, dass er einmal «Schweizer Wanderpapst» («Der Spiegel») werden würde. Als Kind war ihm Wandern zuwider. Er studierte Islamwissenschaft und Arabistik, arbeitete kurz als IKRK-Kriegsdolmetscher und war Juror am Wettlesen um den Bachmann-Preis in Klagenfurt, bevor er sich den Schweizer Wanderwegen zuwandte. Mittlerweile schreibt er Wanderkolumnen und themenverwandte Bücher. «Schweizer Wunder» war 2016 ein Sachbuch-Bestseller. Nun erscheint sein neustes Werk «Mein Wortschatz» im Verlag Echtzeit. Thomas Widmer lebt in Zollikerberg ZH.

Anja Wurm

Thomas Widmer wurde 1962 in Stein AR geboren. Lange war nicht absehbar, dass er einmal «Schweizer Wanderpapst» («Der Spiegel») werden würde. Als Kind war ihm Wandern zuwider. Er studierte Islamwissenschaft und Arabistik, arbeitete kurz als IKRK-Kriegsdolmetscher und war Juror am Wettlesen um den Bachmann-Preis in Klagenfurt, bevor er sich den Schweizer Wanderwegen zuwandte. Mittlerweile schreibt er Wanderkolumnen und themenverwandte Bücher. «Schweizer Wunder» war 2016 ein Sachbuch-Bestseller. Nun erscheint sein neustes Werk «Mein Wortschatz» im Verlag Echtzeit. Thomas Widmer lebt in Zollikerberg ZH.

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Auf welche Wander-Typen trifft man in den Bergen eigentlich so?
Es gibt die humorlosen Asketen, die nur Spass haben, wenn sie neun Stunden unterwegs sind und nie irgendwo einkehren. Die Geniesser, die die Route nach der Bergbeiz aussuchen und schon mit einer Flasche Wein im Rucksack losziehen. Oder die, die immer stehen bleiben. Also entweder weil sie ständig für Instagram Fotos machen müssen oder weil sie nicht gleichzeitig gehen und reden können. Die treiben mich in den Wahnsinn. Und dann gibt es noch die politischen Wanderer, vor allem Altlinke, sie leiden an der Welt, sehen nur Probleme: Au! Der Bach schäumt, Gewässerverschmutzung!

Zu welcher Gattung gehören Sie?
Ich gehöre sicher nicht zu den Kampfwanderern. Ich will mich auf die Landschaft einlassen, immer etwas Neues sehen. Ich mache nie zweimal die gleiche Route.

Gibt es Menschen, mit denen Sie nie auf eine Tour würden?
Solche, die zu viel quasseln.

Das klingt unentspannt. Was macht Wandern mit der Psyche?
Im Lauf des Tages verändert man sich, der Atem beruhigt sich beim Gehen, man legt an Gelassenheit zu. Man lernt sich auch besser kennen. Wie belastbar man ist, was einen hässig macht. Wenn man am Morgen denkt, man sei gut drauf, dann in den vollen Zug ins Tessin steigt und schreiende Kinder einen in den Wahnsinn treiben. Auf dem Heimweg stört mich der gleiche Lärm nicht mehr. Wandern ist alpiner Buddhismus.

Und die beliebteste Sportart, wie das Bundesamt für Sport herausgefunden hat. 57 Prozent von uns wandern regelmässig. Warum dieser Hype?
Wandern kostet wenig im Vergleich zu anderen Sportarten oder Ferien im Ausland. Es ist auch zu einem Statussymbol geworden. Nach einem schönen Sonntag hagelt es in den sozialen Medien Bilder und Posts wie «Ich war im Lötschental, schaut diese Aussicht!». Und Wandern wird immer weiblicher.

Interessant, warum war es das früher nicht?
Frauen mussten früher für den Haushalt sorgen, waren angebunden. Sie gingen vielleicht mal mit dem Dorfverein oder mit der Familie wandern. Selten alleine. Und sie fühlten sich offenbar auch nicht sicher.

Im Ernst?
Das habe ich aus einem Buch über die Rigi. Vor 150 Jahren schrieb eine junge Frau, dass sie erst die Eltern überreden musste, dass sie auch auf die Rigi darf, und dann im Zug permanent übelst angebaggert wurde. Bis vor kurzem war Wandern ein Macho-Sport. Ein ständiger Wettbewerb, wer kann am längsten ohne Pause unterwegs sein. Heute geht es nicht zuletzt um Wellness. Man steigt in einem schönen Hotel an der Lenk ab, wandert drei Stunden und geht anschliessend in die Sauna.

Wandernation Schweiz

Keinem Land der Welt liegt der Wandersport so am Herzen wie der Schweiz. Seit einer Volksabstimmung von 1979 sind Fuss- und Wanderwege Staatsaufgaben, das ist einzigartig. Angefangen hat das mit den Wanderwegen aber bereits in den 1930er-Jahren. Ein Lehrer aus der Ostschweiz störte es, mit seiner Klasse durch Auto-Abgaswolken über den Klausenpass zu wandern. Er fing an, schöne Wanderstrecken zu beschildern. Daraus entstanden 1934 die Schweizer Wanderwege und die rund zwei Dutzend kantonalen Wanderweg-Organisationen. Heute gelten 65'000 Kilometer als Wanderstrecke, damit könnte man anderthalbmal die Welt umrunden.

Keinem Land der Welt liegt der Wandersport so am Herzen wie der Schweiz. Seit einer Volksabstimmung von 1979 sind Fuss- und Wanderwege Staatsaufgaben, das ist einzigartig. Angefangen hat das mit den Wanderwegen aber bereits in den 1930er-Jahren. Ein Lehrer aus der Ostschweiz störte es, mit seiner Klasse durch Auto-Abgaswolken über den Klausenpass zu wandern. Er fing an, schöne Wanderstrecken zu beschildern. Daraus entstanden 1934 die Schweizer Wanderwege und die rund zwei Dutzend kantonalen Wanderweg-Organisationen. Heute gelten 65'000 Kilometer als Wanderstrecke, damit könnte man anderthalbmal die Welt umrunden.

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Als Kind war Wandern für mich eine Pflichtübung. Wie war das bei Ihnen?
Ich hasste es. Wir fuhren immer in den Thurgau zum Wandern, im Postauto roch es nach Kölnisch Wasser, mir wurde immer schlecht. Psychisch halt. Ich war ein introvertierter Bub. Am liebsten hätte ich daheim den ganzen Tag gelesen. Auf den Ausflügen war ich immer wütend. Ich riss einen Weidenzweig ab und köpfte alle Blumen am Wegrand. Einmal hinkte ich den ganzen Weg, aus Protest. Ein Arbeitskollege meines Vaters, den wir trafen, fragte, ob ich ein böses Bein habe.

Wie kann man sich und den Kindern ein Theater ersparen?
Man sollte sie nicht zwingen. Und man sollte sie motivieren. Ihnen sagen, dass es ein Abenteuer wird, dass man zwei Stunden geht und dann eine Höhle besucht oder an einem schönen Ort ein Feuer macht und eine Wurst brätelt. Kinder wollen nicht drei Stunden lang wandern, ohne dass etwas passiert. Am Weg muss es Dinge zum Entdecken haben. Einen Felsblock zum Klettern zum Beispiel. Jetzt stehen wir übrigens gerade vor dem Stein, den ich so mag: dem Alexanderstein.

Der ist riesig!
Ja, ein riesiger Findling, der kam auf dem Gletscher aus dem Glarnerland angeritten.

Kommen wir zu Ihrem neuen Buch. Darin gehts um Wörter, die Ihnen unterwegs begegnet sind. Was hat Sie bewogen, es zu schreiben?
Das hat auch mit dem ersten Corona-Lockdown zu tun. Ich brauchte ein Projekt und wollte nicht schon wieder ein Wanderbuch schreiben. Beim Wandern merke ich, dass ich nicht nur auf einen schönen Bach anspringe, sondern auch auf ein Schild vor einem Hundesalon, auf dem «Oh my dog» steht, anstatt «Oh my god». Ich sammle seit jeher komische Wörter und Wendungen. Im Tram oder Bus belausche ich gerne ein bisschen die Leute.

Und was hören Sie da so?
Kürzlich telefonierte ein junger Typ mit seiner Freundin. Er nölte ins Telefon: «Ich habe total langweilig um d Schnurre.» Genial. Oder ein Mädchen, auch am Telefon, sagte der Mutter: «Mami, jetzt hör mal auf, mich zu mikromanagen, ich bin schon 14.» Eine ganze Geschichte in einem Satz.

Haben Sie ein Lieblingswort?
Arzt auf Engadin-romanisch: meidi. Das klingt so zärtlich, hat nichts von Skalpell, Spritzen und Wundversorgung. Eher wie Meitschi. Das kommt vom lateinischen medicus, der Arzt.

Und eines aus Ihrer Kindheit in Appenzell Ausserrhoden?
Dochtlos für ein Essen, das fade ist. Oder oschiber für unscheinbar.

War Sprache in Ihrem Elternhaus wichtig?
Nein. Mein Vater war Briefträger, später Posthalter, meine Mutter Hausfrau. Ich fing schon vor der 1. Klasse mit Lesen an. Mein älterer Bruder brachte mir und meiner Schwester Buchstaben bei. Sprache wurde für mich zu einem Emanzipationsinstrument. Durch sie kam ich vom Dorf weg in die Kanti in Trogen. Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag, als ich in den Sommerferien vor dem Gymi-Übertritt das Lateinlehrbuch bekam. Die lateinischen Worte habe ich richtig aufgesogen, Worte wie agricola, der Bauer, oder pax, der Friede, klingen heute noch nach. Für mich war das wie eine Weltreise. Wörter sind extrem kraftvoll.

Sie schreiben im Buch, dass das Wort Papizeit zur Einführung des Vaterschaftsurlaubs beigetragen habe. Wie kommen Sie darauf?
Papizeit war eine clevere Erfindung, einen Papi mag jeder. Vaterschaftsurlaub ist unsinnlich. Zur Papizeit sagt man mit Freude Ja.

Die SVP arbeitet mit dieser Technik, seit es sie gibt.
Die SVP war lange Weltmeister darin, negative Wörter zu schaffen. Sie redete zum Beispiel konsequent von Asylbetrügern. Politik funktioniert allgemein über Wortschöpfungen.

Wie funktioniert das: Wie entfalten die Wortschöpfungen ihre Wirkung?
Das Konzept heisst Framing. Wer eine politische Kampagne macht, schaut, welche Wörter man bauen kann, die eine Emotion transportieren und einfach verständlich sind. Am besten ködert man die Leute mit Soft-Ice-Wörtern. Trinkwasser-Initiative ist besser als Pestizid-Initiative. Trinken tut jeder, Wasser brauchen wir zum Leben. Pestizid löst unangenehme Gefühle aus. Trump ist ein Framing-King. Er hat die Lüge vom Wahlbetrug so oft wiederholt, dass es verfangen musste. Worte haben eine ungeheure Macht.

Vielleicht brächte die Einführung des Gendersternchens also mehr Geschlechter-Gleichheit.
Nicht unbedingt. Meine Beobachtung ist zwar alt, aber vergleichbar. In den 80ern brachte man das Binnen-I auf: SchweizerInnen. Ich war damals an der Uni Bern, die linken Männer übernahmen das Binnen-I sofort, unter diesem Deckmantel konnten sie genauso sexistisch weitermachen wie zuvor.

Sie sind viel herumgekommen: Wo liegt in der Schweiz eigentlich der Arsch der Welt?
Bei Amden SG gibt es die Alp Arsch, sehr abgelegen. Diese wollte man umtaufen, weil der Name vulgär klinge. Dabei kommt das Wort Arsch in Ortsnamen häufig vom lateinischen Wort arsus – verbrannt – und bezieht sich auf Brandrodung. Aber was heisst schon Arsch der Welt?! Ich habe viel mehr Mühe mit Orten, die total zersiedelt sind. Dann bin ich lieber am Arsch der Welt.

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