Der Kultranzen mit Fell ist heute ein Luxus-Accessoire
Schulthek der Herzen

Der Schulsack aus Fell lässt niemanden kalt. Einst ein Standardprodukt, hat sich der Fellthek zu einem Luxus-Accessoire entwickelt.
Publiziert: 01.09.2019 um 14:01 Uhr
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Aktualisiert: 16.09.2019 um 14:41 Uhr
Felltheks wecken nostalgische Gefühle. Reto Ruffner Lederwaren in ­Zürich verkauft sie ab 320 Franken in Kalbsfell und Springbock (M.).
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Jonas Dreyfus (Text) und Thomas Meier (Fotos)

Schon das Geräusch eines Schulranzens aus Fell löst Emotionen aus. Wer Anfang der 1990er-Jahre die Primarschule besuchte, dürfte es noch kennen, alle über dreissig sowieso: das Klacken, das am Ende des Unterrichts im Klassenzimmer zu hören war, wenn die Schüler ihr Material wie beim Computerspiel Tetris möglichst platzsparend im Thek verstauten, den steifen ­Deckel zuklappten und die Reflektoren ­unter den Bügel des Steck­verschlusses schoben. Das schöne Gefühl, wenn etwas millimetergenau ins andere passt, die seidene Beschaffenheit des Fells, das man streicheln konnte wie ein Haustier. Und der Geruch! Eine Lederexplosion mit einer Note Kuhstall.

Der letzte Grosshersteller hat die Produktion eingestellt

Es mag an diesen nostalgischen ­Erinnerungen liegen, dass Erwachsene dem Fellthek, den traditionellerweise Buben trugen, immer ­wieder ein Revival prophezeien.

Die Realität sieht anders aus: Letztes Jahr stellte der letzte Schweizer Grosshersteller von Schulgepäck, die Oskar Debrunner AG in Weinfelden TG, die Produk­tion ihrer Marke «Big Box» nach dreissig Jahren ein – inklusive der gleichnamigen Felllinie.

Seither kämpfen wenige Kleinbetriebe um einen möglichst grossen Anteil am schwindenden Markt. Das kommt der Qualität der Produkte zugute, treibt aber auch die Preise in die Höhe. Ein Ranzen kostet rund 300 Franken. Der Fellthek, wie viele Schweizer ihn nennen, ist ein vom Aussterben bedrohtes Luxus-Accessoire geworden.

Die Nachfrage sei einfach zu klein für eine industrielle Produktion, sagt Rolf Bötschi, Verkaufsleiter der Oskar Debrunner AG. Zuletzt habe man noch 50 Stück pro Jahr verkauft. Zudem sei die Kundschaft bei Preisen ab 300 Franken pro Schulsack anspruchsvoll.

«Viele Onlinekunden, die im Shop nur ein Beispielmodell sahen, wollten ihr bestelltes Modell umtauschen, weil ihnen die Musterung des Fells nicht gefiel. Man ist sich heute oft nicht mehr bewusst, was es heisst, ein Naturprodukt zu kaufen, das in jeder Ausführung anders aussieht.»

Deutschland gibt beim Schulgepäck laut Bötschi heute die Trends vor. Auch was das grosse Volumen der Taschen betrifft. Das mache nicht immer Sinn. «Vor ­allem auf dem Land brauchen Schüler in der Unterstufe bei uns nicht so viel Platz, um Material zu verstauen, weil sie das meiste in der Schule lassen können.»

Wer sich in Papeterien umschaut, den erschlägt eine Bilderflut aus den Comicwelten von «Spider-Man» bis «Frozen». Nirgends bestimmt die Nachfrage so gnadenlos das Angebot wie in den Kinder­abteilungen. Hand aufs Herz: Wer von uns wäre als kleiner Knopf nicht in Ekstase geraten beim Anblick der jetzt erhältlichen Kletties, Stoff-Plätzchen mit herzigen Bildern von Tieren und Ähnlichem, mit denen sich der Schulsack verzieren lässt? Für Eltern von heute heisst das Zauberwort Ergonomie. Manche Schulsäcke versprechen sogar, mit dem Kind mitzuwachsen.

In Peking sind Schüler mit ­Felltornistern Stars

Wer kauft sie denn überhaupt noch, die Felltheks, die aus einer Welt stammen, als Superhelden Schellenursli hiessen und Komfort Zähnezusammenbeissen bedeu­tete? «Fünf bis acht Stück gehen ­jedes Jahr schon einmal an die Waldorfschule im deutschen Konstanz», sagt Reto Ruffner (69). Er verkauft seit 44 Jahren in der Zürcher Altstadt Lederwaren. Fast genauso lange hat er ­eigene Felltheks im Sortiment. Die Lederteile stanzt er in seiner Werkstatt in Davos GR aus, seinem Geburtsort. Ein Bekannter näht sie zusammen. Im Laden in Zürich fertigt Ruffner schliesslich noch die Träger.

Liebhaber seiner Produkte sind nicht nur Anthropo­sophen und urbane Jung-­Eltern – auch viele Grossverdiener und Intellektuelle gehören zu seiner Kundschaft. Ein chinesischer Professor, der vor­übergehend in der Schweiz ­arbeitete, habe zum Beispiel einen Thek für seinen Sohn gekauft, sagt Ruffner. In Peking war er damit ein Star. Genauso positiv fallen Schweizer Expat-Kinder auf, die im Ausland etwas tragen, das sie an die Heimat erinnert. «An den internationalen Schulen spricht sich mein Name herum. Das bringt mir immer wieder neue Kundschaft.»

Er selbst sei mit einem Lederthek in die Schule gegangen, sagt Ruffner. «Nur wer Batzeli hatte, konnte sich Fell leisten. Am exklusivsten war Robbe.» Zwischen 30 und 70 Theks gehen heute pro Jahr über seinen Ladentisch. Ab 320 Franken pro Stück. Seit die Debrunner AG ihren Betrieb eingestellt habe, sei die Nachfrage tendenziell steigend. Natürlich gibt es Tränen in seinem Geschäft, wenn ein Kind mit Mainstream-Geschmack lieber ein Modell mit «Jurassic Park»-Motiven möchte.

Es kommt aber auch vor, dass ein einziger Schüler einen Felltrend lanciert und eine ganze Klasse ihm folgt. Aus Erfahrung weiss Ruffner, dass Buben mit kurzen dunklen Haaren Modelle mit kurzem dunklem Fell präferieren. Buben mit langem hellem Haar Modelle mit langem hellem Fell. Dieses stammt bei ihm meist von Kälbern aus Südamerika, die Felle bezieht er aus Italien. «Bei uns gibt es nur noch wenige Gerbereien», sagt Ruffner. «Schweizer Kuhfell ist dort nur in Kleinstmengen erhältlich und meist nicht so flauschig, wie sich das die Kunden wünschen.»

Wer mehr wissen will, stösst auf eine Mauer des Schweigens

Damit erzählt Ruffner weit mehr über seine Produkte als die Konkurrenz. Wer bei den letzten Herstellern von Felltheks Genaueres über Produktionsort und Herkunft der Materialien wissen will, stösst auf eine Mauer des Schweigens. Zu gross ist die Angst vor Kopierern und Grosshandel, die einem das Wasser abgraben könnten.

Auch bei der Elwes Lederwarenfabrik, die Schweizer Papeterien und Webshops wie Kuhfell.ch beliefert, wird man abgewimmelt. Ihre Modelle sind nur teilweise aus Leder, kosten dafür nur rund 250 Franken. Hochwertige Ganzle­der­modelle verkauft neben Ruffner auch Pastorini Spielzeug im Laden in Dübendorf ZH und im Web­shop. Das Familienunternehmen schloss seinen Standort in der Zürcher Altstadt vor eineinhalb Jahren wegen abnehmender Kundenfrequenz und musste 16 Mitarbeiter entlassen.

Geschäftsleiter André Nyffeler gibt wie seine Mitstreiter keine ­Details über Lieferanten preis. «Der Detailhandel kämpft allgemein ums Überleben», sagt er. «Es wäre verheerend, wenn die wenigen exklusiven Produkte, die wir noch im Sortiment haben, plötzlich beim Discounter im Regal stehen. Auch wenn der Markt für Felltheks winzig ist, beschütze ich unsere ­Rezeptur wie eine Gluggere.»

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