Philosophin Amia Srinivasan analysiert in ihrem neuen Buch unsere Sexualität
«Es gibt kein Recht auf Sex»

Die Britin Amia Srinivasan (37) gilt als Starphilosophin der jungen Generation. In ihrem neuen Buch analysiert sie unsere Sexualität. Im Interview spricht sie über Mainstream-Pornos, Schwächen des Feminismus und darüber, was sie ihrer Patentochter mitgeben möchte.
Publiziert: 19.02.2022 um 10:31 Uhr
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Aktualisiert: 22.02.2022 um 10:33 Uhr
Karin A. Wenger

Sie widmen das Buch Ihrer Mutter. Was haben Sie von ihr darüber gelernt, was es bedeutet, eine Frau zu sein?
Oh! Interessanterweise haben wir, als ich aufgewachsen bin, nicht viel über Geschlechterrollen oder Feminismus geredet.

Manchmal wird uns das ja auch sehr implizit vermittelt.
Genau. Ich muss etwas ausholen: Meine Urgrossmutter sagte zu meiner Mutter am Sterbebett, dass sie in ihrem nächsten Leben an einer Universität studieren und niemals heiraten werde – wir Hindus glauben an die Wiedergeburt. Sie konnte nicht frei oder selbstbestimmt leben. Meine Mutter studierte, sie ist Tänzerin und unterrichtet auch an der Universität. Sie ist superintellektuell. Gleichzeitig sah ich, dass auch sie nicht frei war. In ihrem Leben waren ständig die Bedürfnisse von anderen ihre Priorität. Die Bedürfnisse von ihren Kindern, von meinem Vater, meinen Grosseltern. Das zu merken, hat mir schon als Kind wehgetan. Das hat mich sicher geprägt.

Junge Starphilosophin

Die Philosophin Amia Srinivasan (37) wurde in Bahrain geboren. Mit ihren indischen Eltern lebte sie in Taiwan, New Jersey, New York, Singapur und London. Die Universität Oxford ernannte sie vor einem Jahr zur Professorin am renommierten Lehrstuhl für Soziale und Politische Theorie. Sie ist die erste Frau und bisher jüngste Person, die diesen Posten besetzt. Die britische «Vogue» porträtierte sie als Starphilosophin der jungen Generation, die verändern werde, wie wir über Sex denken. Ihr erstes Buch «Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert» ist ab sofort auf Deutsch im Klett-Cotta Verlag erhältlich. Amia Srinivasan lebt in London.

Suki Dhanda / Guardian / eyevine / laif

Die Philosophin Amia Srinivasan (37) wurde in Bahrain geboren. Mit ihren indischen Eltern lebte sie in Taiwan, New Jersey, New York, Singapur und London. Die Universität Oxford ernannte sie vor einem Jahr zur Professorin am renommierten Lehrstuhl für Soziale und Politische Theorie. Sie ist die erste Frau und bisher jüngste Person, die diesen Posten besetzt. Die britische «Vogue» porträtierte sie als Starphilosophin der jungen Generation, die verändern werde, wie wir über Sex denken. Ihr erstes Buch «Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert» ist ab sofort auf Deutsch im Klett-Cotta Verlag erhältlich. Amia Srinivasan lebt in London.

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In Ihrem Buch sind Rollenbilder ein wichtiges Thema. Diese prägten, wie wir Sex haben, und Sex sei politisch, schreiben Sie. Aber Sex ist doch etwas Privates.
Natürlich ist Sex sehr privat und intim, aber er kann gleichzeitig auch politisch sein. Politisch im Sinne von: Wie wir Sex haben, oder wen wir als sexuell begehrenswert empfinden. Das ist auch von der Politik beeinflusst.

Die Professorin an der Universität Oxford, Amia Srinivasan (37), spricht im Interview über ihr erstes Buch.
Foto: Suki Dhanda / Guardian / eyevine / laif
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Ob ich einen Mann attraktiv finde oder nicht, fühlt sich eigentlich recht instinktiv an.
Ja, das kann wie etwas sehr Natürliches wirken. Aber wo und wie wir aufgewachsen sind sowie unser Umfeld beeinflussen, wen wir attraktiv finden. Ähnlich ist es bei der Musik. Wir glauben, es sei Geschmackssache. Doch ob wir einen Musikstil mögen, hängt auch davon ab, was im Radio läuft oder was in der Gesellschaft als gute Musik gilt.

Wessen Körper wir begehren, sei beeinflusst von Politik, sagt Amia Srinivasan.
Foto: plainpicture/Daniel K Schweitzer

Und wie spielt nun die Politik bei sexuellen Vorlieben hinein?
Bei Dating-Apps sieht man das deutlich. Auf Grindr, einer App für homosexuelle Männer, schreiben manche ins Profil, dass sie keine Asiaten oder keine Schwarzen wollen. Auch auf Apps für Heterosexuelle gibt es vergleichbare Muster. Ich glaube schon, dass unser Geschmack auch angeboren ist, aber nicht nur. Wenn jemand sagt, er fühle sich zu Asiaten nicht hingezogen, frage ich: Wie weiss er das? Er hat ja nicht alle asiatischen Männer dieser Welt getroffen. Mit solchen Aussagen schränken wir uns unbewusst ein, damit wir Personen begehren, die auch in der Gesellschaft als begehrenswert gelten.

Dafür brauchen Sie den Begriff der «Fuckability» (Fickbarkeit).
Genau, die Hierarchie der Fuckability – wie übersetzen Sie das ins Deutsche? Bei den Abstufungen der Fuckability geht es darum, welche Körper den höchsten Status an jene verleihen, mit denen sie Geschlechtsverkehr haben. Attraktive Blondinen stehen weit oben. Schwarze Frauen oder männliche Asiaten sind unten in der Hierarchie.

Wenn wir unser Begehren also anpassen sollten, würde das bedeuten, dass alle ein Recht auf Sex haben? Das wäre ein Widerspruch zu Ihrer These.
Das ist eine sehr schwierige Frage. Es gibt kein Recht auf Sex, und ich glaube nicht, dass jeder das Recht hat, begehrt zu werden. Weil das würde bedeuten, dass jemand verpflichtet wäre, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Es fällt auf, dass Frauen, die Mühe haben, Sexpartner zu finden, mit Empowerment reagieren: Selbstliebe-Bewegungen von Schwarzen oder dicken Frauen rufen mit Slogans wie «alle Körper sind schön» auch dazu auf, sexuelle Vorlieben nicht als unveränderbar hinzunehmen. Heterosexuelle Männer hingegen, die sexuell ausgegrenzt werden, reagieren oft mit einem Anspruch auf weibliche Körper.

Amia Srinivasan ist Professorin für Soziale und Politische Theorie in Oxford, Grossbritannien.
Foto: Suki Dhanda / Guardian / eyevine / laif

Meinen Sie damit Incels, Singlemänner, die Sex als ihr Recht sehen und aus Selbstmitleid auch Gewalt gegen Frauen tolerieren?
Genau. Vordergründig sind Incels wütend darauf, dass Frauen nicht mit ihnen schlafen wollen. Doch eigentlich geht es ihnen oft gar nicht nur um Sex oder darum, dass sie einsam sind. Die meisten von ihnen haben überhaupt kein Interesse an Sex mit einer Frau, die nicht zuoberst in der Hierarchie der Fuckability ist – also weiss, blond, dünn und jung ist. Sie fühlen sich schlecht, weil sie sich selbst zuunterst in der Hierarchie sehen. Aber statt sich gegen die Hierarchie zu wehren, entrüsten sie sich nur über ihren niederen Status.

Weisse, blonde, dünne Frauen sind auch ein Ideal in Pornos. Sie bezeichnen diese Filme als langweilig.
Ich sagte, dass Mainstream-Pornos langweilig sind. Es gibt feministische und queere Pornos, die versuchen, das Mainstream-Pornoskript zu durchbrechen, das immer und immer und immer wieder das Gleiche zeigt. Der Mann ist im Zentrum, alles dreht sich darum, seine Lust zu befriedigen. Jeder Mainstream-Porno endet mit dem, was wir in Englisch als «cum shot» bezeichnen, der Ejakulation des Mannes. Dass der Frau gefällt, was der Mann tut, wird als ganz selbstverständliche Begleiterscheinung gezeigt.

Ihre Studentinnen und Studenten erzählen Ihnen offenbar, dass Pornografie ihre Vorstellung von Sex stark beeinflusst. Alarmiert Sie das?
Ach, ich weiss wirklich nicht, was ich dagegen tun soll. Eine Lösung, die oft genannt wird: bessere Sexualaufklärung. Ich war erst kritisch eingestellt, doch beginne ich, meine Meinung zu ändern.

Inwiefern?
Wir müssen junge Leuten lehren, eine kritische Distanz zu ziehen zwischen ihnen und dem, was sie in Pornos sehen. Gleich, wie wir Kinder lehren, einen Roman zu lesen. Doch ein Problem ist, dass man in vielen Ländern Minderjährigen Pornografie nicht zeigen darf, und zwar aus offensichtlichen und sehr guten Gründen. Es gibt also ein Paradox: Wie bringt man jungen Menschen bei, Texte zu lesen, die man ihnen weder zeigen darf noch sollte?

Man könnte Pornos auch einfach verbieten.
Das funktioniert nicht. Als Indien den Zugang zu Pornhub sperrte, tauchten sofort neue Websites auf. Legale Verbote schaden zudem den Pornodarstellerinnen. Die meisten sind keine Stars, sondern machen diese Arbeit, weil sie Geld brauchen.

Sie äussern sich generell kritisch darüber, dass Feministinnen schärfere Gesetze fordern. Zum Beispiel gegen sexualisierte Übergriffe. Wieso?
Gesetze haben zwar eindeutig einen Einfluss darauf, wie sich Menschen verhalten. Aber Feministinnen fordern manchmal Gesetze, ohne an die genauen Konsequenzen zu denken. Welchen Frauen wird ein neues Gesetz genau helfen? Welchen nicht?

Machen Sie bitte ein Beispiel.
Als in den USA ein neues Gesetz gegen häusliche Gewalt verabschiedet wurde, wonach die Polizei Täter obligatorisch verhaften musste, klang das erst mal gut. Doch die Folge war, dass Women of Color noch mehr Gewalt erlebten, sobald die Täter die Haft verliessen. Denn diese Frauen sind überdurchschnittlich oft arm. Sie konnten es sich nicht leisten, sich vom Mann zu trennen, der finanziell für sie sorgt. Also ist es keine Lösung, Männer zu verhaften, solange nicht geklärt ist, wer sich um die Frauen und ihre Kinder kümmert.

Foto: Suki Dhanda / Guardian / eyevine / laif

In der Schweiz wird aktuell das Sexualstrafrecht überarbeitet. Manche fordern die Lösung «Nur Ja heisst Ja». Also dass sexuelle Handlungen ohne Zustimmung als Vergewaltigung gelten.
Viel zu lange wurde Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebten, nicht geglaubt. Deshalb ist es natürlich wichtig, dass sich das ändert. Aber Gesetze nach dem Prinzip «Nur Ja heisst Ja» lösen meiner Meinung nach das eigentliche Problem nicht. Früher mussten es Männer schaffen, dass die Frau nicht Nein sagt. Jetzt muss er sie dazu bringen, Ja zu sagen. Wenn wir zurückblicken, gibt es Generationen von Frauen, die Ja zu Sex sagten, obwohl sie es nicht wollten.

Wieso?
Das hat mit Sozialisierung und Geschlechterrollen zu tun. Viele Frauen haben die Idee verinnerlicht, dass sie einem Mann Sex schulden. Dass sie eine schlechte Frau sind, wenn sie nicht mit dem Mann schlafen. Im Buch beschreibe ich den Fall einer amerikanischen Studentin, die an einer Party mit einem Kollegen knutscht und denkt, er erwarte nun von ihr, dass sie Sex haben. Die junge Frau beschreibt, dass die Studentenkultur an der Universität vorgebe, dass eine Frau, die sich auf einen Mann einlasse, es ihm schuldig sei, das dann auch durchzuziehen.

Es ist also komplizierter, als wir auf den ersten Blick meinen.
Exakt. Ich bin ein grosser Fan von Komplexität.

Anderen Feministinnen werfen Sie hingegen vor, Komplexität zu wenig zu beachten. Können Sie das genauer erklären?
Es spielen immer viele andere Probleme mit hinein: soziale Schichten, Armut, Rassismus. Das vernachlässigen Feministinnen oft. Viele sind nur daran interessiert, das Leben von wohlhabenden, meist weissen Frauen zu verbessern. Ich finde es schlecht, wenn sich der Feminismus nicht um die Probleme der Arbeiterschicht kümmert. Denn die ärmsten innerhalb der Arbeiterschicht sind Frauen. Und unter armen Menschen gibt es überdurchschnittlich viele Frauen.

Nun haben wir viel über Themen gesprochen, die Frauen betreffen. Sie haben eine Patentochter, Clio. Was möchten Sie ihr mit auf den Weg geben darüber, was es heisst, eine Frau zu sein?
Uh, das ist eine lange Liste. Sie ist jetzt fünf Jahre alt. Ich möchte vor allem, dass sie merkt, dass sie als Frau alles sein kann. Dass es keine Vorgaben dafür gibt, was es heisst, eine Frau zu sein. Und dass es nur an ihr liegt, und an uns allen, welche Rolle das Geschlecht noch spielen wird in Zukunft. Ich möchte, dass sie und alle jungen Menschen kreativ sind, wenn es um das geht, was wir heute noch für angeboren und natürlich halten.

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