«Man lügt einfach nicht»
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Jonas Lüscher im Interview:«Man lügt einfach nicht»

Interview mit Jonas Lüscher
«Man lügt einfach nicht»

Der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher (43) über seine Suche nach Wahrheit in der Philosophie, ein richtiges Zitat zum falschen Zeitpunkt und sein Buch «Ins Erzählen flüchten».
Publiziert: 04.04.2020 um 15:08 Uhr
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Aktualisiert: 10.07.2020 um 17:53 Uhr
Der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher (43) hatte 2013 seinen literarischen Durchbruch mit der hochgelobten Novelle «Frühling der Barbaren».
Foto: Thomas Meier
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Interview: Daniel Arnet

Jonas Lüscher, «Ins Erzählen flüchten» heisst Ihr neues Buch, worin Sie Ihre Entwicklung vom Philosophen zum Romanautor thematisieren. Wie war Ihr Fluchtweg?
Es war ein langer Weg. Aber im Gegensatz zu einem wirklichen Flüchtling habe ich meine neue Heimat schon gekannt.

Hat man Sie im Erzählen gut aufgenommen?
Ja und nein. Man ist dort sehr frei, aber auch auf sich selber gestellt – es ist ein sehr einsames Land. Jeder sitzt vor seinem Computer oder Papier und schreibt. Nur auf Lesereisen und Festivals kommt man in engen Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen.

Nicht einfach in Corona-Zeiten.
Nun, eigentlich ist es eine ideale Zeit, um zu schreiben – und auch zum Lesen. Das macht man sowieso am besten in Isolation. Aber viele Autorinnen und Autoren leben von Lesungen. Diese fallen jetzt weg. Trotzdem würde ich sagen, dass es die Schriftsteller, im Vergleich zu anderen Kulturschaffenden, nicht so hart trifft.

Weshalb sind Sie ins Erzählen geflüchtet?
In meiner philosophischen Arbeit bin ich in eine Art Sprachkrise geraten. In der akademischen Sprache muss man seine Argumente und Begriffe derart präzisieren, dass ich das Gefühl hatte, ich ziele am eigentlich Gemeinten vorbei.

Was heisst das konkret?
Man versucht unter ein Argument möglichst viele Einzelfälle zu bringen. Dabei geht der Einzelfall verloren. Ich merkte: Wenn ich erzähle, dann kommt der Einzelfall zu seinem Recht.

Sind Sie enttäuscht von der Philosophie?
Als ich begann, Philosophie zu studieren, hatte ich den fast schon peinlichen Traum, ich könne jetzt alles Vage und Unsichere aus dem Weg räumen und bekomme einen sicheren Grund, auf dem ich stehen kann.

Die absolute Wahrheit sozusagen.
Ja, das ist eine Art intellektuelle Torfstecherei, bei der man alles Schmutzige hinter sich wirft, bis der Spaten sich an der Wahrheit umbiegt.

Sie haben diesen Talgrund der Wahrheit nie erreicht?
Natürlich nicht, denn den gibt es nicht. Heute misstraue ich diesem Bild zutiefst. Philosophie ist nichts, was mir Sicherheit gibt, sondern mich eher verunsichert. Und mir geht es eh weniger ums Finden als ums Erfinden. Da dachte ich, ich könne gleich erzählen.

Sie fordern mehr Erzählungen statt Computermodelle. Das ist doch ein frommer Wunsch im Internet-Zeitalter mit Big Data!
Ja, aber in Zeiten von Big Data muss alles messbar gemacht werden. Dann wird eben das für wichtig erklärt, was sich messen lässt, und alles andere ignoriert.

Welche Funktion muss demgegenüber das Erzählen erfüllen?
Eine von vielen Funktionen ist es, uns fremde Lebensrealitäten näherzubringen. Dadurch entwickeln wir Solidarität für jene, die uns vorher fremd waren.

Seit wann erzählen Menschen einander Geschichten?
Man könnte vielleicht sagen, dass von sich selbst zu erzählen, also seine eigene Biografie in einer Geschichte zu fassen, markiere den Punkt der Menschwerdung. Es gibt vermutlich kein Tier, das eine Erzählung von sich selber hat.

Hat denn jeder Mensch eine Erzählung von sich selbst?
Wenn jemand keine Geschichte über sich erzählen kann – man muss sie nicht ausformulieren –, dann wird das Leben sehr schwer. Erzählungen sind ein Teil des Menschseins.

Sie sehen in Ihrem Buch den Gegensatz zwischen erzählender Weltbetrachtung, die das Beschreiben im Sinn hat, und einer mathematisch-wissenschaftlichen Weltbetrachtung, die auf Erklärungen abzielt.
Und Klagen hört man über beide Seiten: Die einen beklagen sich über die wahnsinnige Quantifizierung der Welt; die anderen sagen, es gebe viel zu viele Geschichten, was einer narrativen Beliebigkeit gleichkomme. Beide Diagnosen stimmen.

Gerade Ihr Schweizer Kollege Lukas Bärfuss fordert: «Hört auf mit euren Geschichten!» Was entgegnen Sie ihm?
Er erkennt eine richtige Problematik im Geschichten-Erzählen: Storys werden oft dazu missbraucht, um trockene Zahlen runterzumassieren. Das Erzählen wird so ein Gleitmittel für harte Stoffe. Auf Teufel komm raus alles in eine leicht verdaubare Story zu packen, ist nicht der richtige Weg.

Aber wenn jemand dadurch einen Sachverhalt besser versteht, spricht doch nichts dagegen.
Es spricht nichts dagegen, doch es besteht die Gefahr, dass man versucht, etwas allzu stark zu vereinfachen.

Wann ist eine Erzählung zu simpel? Wenn ist sie zu kurz?
Nein, mit Kürze hat das nichts zu tun. Man kann einen kurzen, tiefen Text schreiben, während man sich in einem langen verlieren kann.

Trotzdem schnöden viele über den kurzen, knackigen BLICK.
Man muss natürlich mehr als nur die Schlagzeile lesen. Eine Geschichte lässt sich natürlich nicht auf eine Schlagzeile reduzieren. Ein Problem der Vereinfachung ist, dass man die Ambivalenzen ausbügelt – man versucht eine klare, eindeutige Geschichte zu erzählen. Doch die wenigsten Themen in unserer Welt sind eindeutig. Es gibt immer verschiedene Perspektiven auf ein Thema.

Die Sozialdemokratie, der Sie nahestehen, hat in ihrer Geschichte immer wieder vereinfachende Schlagzeilen geliefert.
Gewiss, das ist eine Kampagnensprache. Und wenn man eine Kampagne gewinnen will, kommt man da gar nicht drum rum. Wenn aber ein Politiker in einer 90-minütigen TV-Debatte nur Slogans von sich gibt, dann ist das grauenhaft.

Sie sprechen von Populisten.
Ja, wir haben zu viele Politiker, die sagen, dass alles ganz einfach sei. Die Aufgabe der Sozialdemokratie ist zu sagen: Nein, es ist schwieriger, es ist komplizierter.

Aber Politiker, die Komplexität aufzeigen, werden nicht gewählt.
Man darf Wähler nicht für Schwachköpfe halten, die man unter die warme Bettdecke stecken muss. Die Sozialdemokratie ist aus Bildungsvereinen heraus entstanden. Da sagte man: Der Sachverhalt ist kompliziert, den müssen wir analysieren und gemeinsam angehen. Populistische Politik dagegen ist eine Entmächtigung der Wähler. Dort sagt man: Du bist ein Armer, ich übernehme jetzt dein Problem. Doch das ist nicht die Lösung.

Und wie hilft da Literatur?
Indem sie Sachen im Ungewissen belässt. Figuren sind nicht einfach gut oder böse, haben stattdessen alle Schattierungen. Wir müssen es aushalten, dass Sachverhalte unklar sind.

Da könnte man sagen: Sie manchen es sich einfach und überlassen die Denkarbeit dem Leser.
Vermutlich ist es schwieriger, einen ambivalenten, vielschichtigen Text zu schreiben, der den Leser zwingt, sich Fragen zu stellen, als einen eindeutigen, der vermeintlich klare Antworten liefert.

Andererseits sind Sie ein politischer Autor, der eine ganz klare Haltung hat.
Ja, das Aushalten von Unklarheiten ist kein Freifahrtschein für «anything goes». Es gibt Meinungen, die inakzeptabel und falsch sind. Wie die Wahrheit aussieht, mag unklar sein, aber es gibt ganz eindeutige Lügen.

Apropos Lügen: Ist es in Zeiten von Fake-News nicht gewagt, sich auf die Seite erfundener Erzählungen zu schlagen?
Das ist tatsächlich ein Problem. Aber man kann ja Geschichten erzählen, die faktisch fundiert sind – dafür würde ich plädieren. Und ich plädiere für so altmodische Sachen wie für eine intellektuelle Redlichkeit: Man lügt einfach nicht.

Lügen Sie in Erzählungen nie?
Ich nehme es mit den Fakten tatsächlich sehr ernst. Und ich ringe manchmal mit mir. In meinem Roman «Kraft» etwa sitzt die Titelfigur Anfang der 1980er-Jahre in einer Debatte des deutschen Bundestags. Und da zitiert Kraft die britische Regierungschefin Margaret Thatcher mit dem Satz: «There’s no such thing as society.»

Und wo liegt das Problem?
Das hat sie zwar tatsächlich gesagt, aber leider erst 1987. Das ist die grösste Freiheit, die ich mir genommen habe, indem ich Kraft das schon 1982 sagen lasse. Aber es machte mir Bauchschmerzen.

Die Vermischung von historischen Fakten und Fiktion führte kürzlich zu heftigen Diskussionen: In der Amazon-Serie «Hunters» mussten KZ-Häftlinge Schachfiguren spielen, die von Nazis getötet wurden, sobald sie ausschieden. Doch dieses Schach hat es in KZ nie gegeben.
Das ist hochproblematisch. Holocaustleugner könnten das ausnutzen und sagen, seht nur, über KZ werden Dinge behauptet, die es nie gegeben hat. Ausserdem ist es auch irgendwie zynisch. Die tatsächlichen Grausamkeiten, die in Auschwitz tagtäglich begangen wurden, muss ich doch nicht noch mit einer Fiktion überhöhen.

Es gibt also bei der Fiktion Grenzen?
Absolut. Immer dann, wenn man über solche historischen Ereignisse schreibt – da ist man der Wahrheit verpflichtet. Oder man legt die Fiktion als literarisches Mittel offen. Dann ist es legitim. Wie es zum Beispiel Benigni mit «La vita è bella» gemacht hat.

Wäre zeitloses Erzählen die Lösung?
Nein, obwohl sich natürlich die Autoren wünschen, dass ihre Erzählungen in alle Ewigkeit Gültigkeit besitzen.

Das mag für das Werk von Franz Kafka stimmen, doch den späteren Heinrich Böll hat man jetzt schon fast vergessen.
Ja, Böll liest man aus historischem Interesse an der Nachkriegszeit – das hat ja aber auch seine Berechtigung. Ich lese Böll immer noch gerne.

Aber es gibt schon Themen, die auch noch in hundert Jahren interessieren könnten.
Hoffentlich. Es ist ja auch für spätere Generationen von Bedeutung, dass man die Zeit in Worte fasst. Die ganze Holocaust-Literatur ist heute, da die letzten Zeitzeugen wegsterben, wichtiger denn je. Die Literatur übernimmt nun diese Zeitzeugenschaft und bekommt eine neue, eindringliche Funktion.

Man kann also nicht absehen, wie lange haltbar eine Erzählung ist?
Nein, und man sollte beim Schreiben auch nicht allzu sehr daran denken. Manchmal wird ein altes Buch aus aktuellen Gründen wieder populär. Nachdem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt worden war, mauserte sich «1984» von George Orwell zum Bestseller – die Leser hatten das Gefühl, dieses 70 Jahre alte Buch erzähle etwas über die Sprache Trumps.

Primarlehrer, Philosoph, Poet

Jonas Lüscher kommt 1976 in Schlieren ZH zur Welt und wächst in Boston (USA) sowie Bern ­auf. Nach der Aus­bildung zum ­Primarlehrer ­arbeitet er als Dramaturg in der Filmwirtschaft und studiert ­anschliessend an der Hochschule für Philo­sophie in München. 2011 wechselt er an die ETH Zürich, wo er seine Doktor­arbeit beginnt, aber nicht abschliesst. Stattdessen veröffentlicht Lüscher 2013 mit «Frühling der Barbaren» eine viel beachtete und hochgelobte Novelle. 2017 publiziert er mit «Kraft» seinen ersten Roman und gewinnt dafür den Schweizer Buchpreis. In seinem neuen Buch «Ins Erzählen flüchten» schildert Lüscher seinen Weg vom Philosophen zum Poeten.

Jonas Lüscher kommt 1976 in Schlieren ZH zur Welt und wächst in Boston (USA) sowie Bern ­auf. Nach der Aus­bildung zum ­Primarlehrer ­arbeitet er als Dramaturg in der Filmwirtschaft und studiert ­anschliessend an der Hochschule für Philo­sophie in München. 2011 wechselt er an die ETH Zürich, wo er seine Doktor­arbeit beginnt, aber nicht abschliesst. Stattdessen veröffentlicht Lüscher 2013 mit «Frühling der Barbaren» eine viel beachtete und hochgelobte Novelle. 2017 publiziert er mit «Kraft» seinen ersten Roman und gewinnt dafür den Schweizer Buchpreis. In seinem neuen Buch «Ins Erzählen flüchten» schildert Lüscher seinen Weg vom Philosophen zum Poeten.

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Jonas Lüscher: «Ins Erzählen flüchten», C. H. Beck

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