Psychotherapeutin und Bestseller-Autorin Stefanie Stahl
«Frauen gehen Probleme schneller an»

Stefanie Stahl (58) ist Deutschlands bekannteste Psychotherapeutin. Seit Jahren stehen ihre Bücher auf den Bestsellerlisten. Unsere Redaktorin lernte sie bereits in ihrer Jugend kennen. Ein Gespräch über Bindungsangst und natürliches Antidepressivum.
Publiziert: 27.03.2022 um 20:16 Uhr
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Aktualisiert: 29.03.2022 um 15:29 Uhr
Interview: Anette Thielert

Dezember 2020: Ich lese die Spiegel-Paperback-Sachbuch-Bestseller-Liste und stolpere über den Namen Stefanie Stahl, deren Buch «Das Kind in dir muss Heimat finden» auf Platz 1 steht. Mir kommt der Name bekannt vor, kann ihn aber nicht einordnen. Im Internet lese ich ihren Wikipedia-Eintrag und sehe ein Foto von ihr: Ja, das ist Steffi, mit der ich als 18-Jährige in Südfrankreich das Zimmer in einem Jugendhotel geteilt hatte, später trafen wir uns noch zwei, drei Mal in Hamburg, unser beider Heimatstadt, haben uns dann aber aus den Augen verloren.39 Jahre später sehen wir uns privat in Bern wieder, wo Steffi ein Seminar gibt, ein knappes Jahr danach führe ich in Trier dieses Interview mit ihr.

Blick: Als wir uns zum ersten Mal nach vielen Jahren trafen, habe ich gedacht: Oh, eine Psychotherapeutin, die wird dich mit einem Röntgenblick begutachten. Kannst du Menschen noch unbefangen begegnen?
Stefanie Stahl: Ich kann mich ja nicht am Feierabend dümmer machen, als ich bin. Natürlich kann ich gewisse Sachen wahrnehmen oder anders einordnen, wenn mir jemand was erzählt, aber letztlich ist es so: Ich kann nicht hellsehen, welche verborgenen Probleme du vielleicht haben könntest.

Und wie war es bei deinem Mann, hast du ihn genau analysiert, bevor ihr ein Paar wurdet?
Ich war mit ihm vorher schon so lange befreundet, dass ich wusste, dass er ziemlich geradeaus ist und dass er keine Bindungsangst hat. Das ist ganz wichtig in einer Beziehung.

Frauen und Männer gehen untesrchiedlich mit psychischen Problemen um.
Foto: Shutterstock
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Stefanie Stahl und Holger Sorg (50) kannten sich bereits acht Jahre, bis sie 2011 ein Paar wurden. Wenig später zog er bei ihr ein, nach einem Jahr heirateten sie. Der studierte Informatiker kündigte seinen gut bezahlten Job und ist jetzt im Unternehmen Stahl für alle Informatikfragen und einiges mehr zuständig.

Bindungsangst ist eins deiner wichtigsten Themen. Wieso?
Ich hatte eine Beziehung mit einem Mann, die sehr schwierig war. Ich konnte mir keinen Reim auf sein Verhalten machen. Personen mit Bindungsangst verhalten sich oft sehr widersprüchlich. Die Beziehung ist in die Brüche gegangen, und dann habe ich angefangen, Forschungsergebnisse mit meinen eigenen Erfahrungen zu verknüpfen.

Was sind typische Anzeichen von Bindungsangst?
Ein wichtiges Merkmal ist der krasse Wechsel zwischen Nähe und Distanz, oft auch schon am Anfang einer Beziehung. Diese Menschen wollen sich nicht festlegen für ein nächstes Treffen, eiern herum, wenn es um verbindliche Absprachen geht. Manche sagen schon von Anfang an, sie bräuchten sehr viel Freiraum.

In Ihrem Buch unterscheidet Stahl zwischen Sonnenkind und Schattenkind. Das Schattenkind umfasst unsere negativen Glaubenssätze und die daraus belastenden Gefühle wie Trauer, Angst, Hilflosigkeit oder Wut. Aus ihnen resultieren verschiedene Schutzstrategien. Das Sonnenkind steht für unsere
positiven Prägungen: Spontaneität, Abenteuerlust, Neugierde. Es steht aber auch für den Heilungsansatz. Das Sonnenkind ist der Gegenentwurf zum Schattenkind. Als Erwachsene können wir neue Glaubensätze gestalten, positive Werte bilden und konstruktive Verhaltensweisen einüben, schreibt Stahl.

Was ist dein Schattenkind?
Meine Mutter war die älteste von neun Geschwistern, ist im Krieg aufgewachsen und musste immer stark sein. Sie hat mich sehr geliebt und war auch sehr liebevoll, aber mit meinen schwachen Gefühlen konnte sie nicht so gut umgehen. Darum habe ich wahrscheinlich den Glaubenssatz entwickelt: Du musst stark sein.

Und was ist schlecht daran?
Ich musste erst einmal lernen, auch mit schwächeren Gefühlen wie Trauer und Hoffnungslosigkeit gut umgehen zu können.

Verarbeiten Männer psychische Problemen anders als Frauen?
Frauen gehen die Probleme schneller an, sie sind offener. Zumindest wenn man von der älteren Generation redet. Bei den Jungen sind die Männer heute viel aufgeschlossener für Psychologie und Selbstreflexion.

Woher kommt das?
Weil wir klüger geworden sind. Die Psychologie ist eine junge Wissenschaft und hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, auch dank der Neuropsychologie. Wir verstehen heute viel besser, wie unser Gehirn funktioniert. Wir bestehen ja nur aus unserem Körper und unserer Psyche. Man weiss, wie der Körper funktioniert, und schaut, dass man gesund bleibt. In gleicher Weise sollte man sich, wenn die körperlichen Grundbedürfnisse gesichert sind, seiner Psyche zuwenden. Unsere Wahrnehmung, unser Denken und Fühlen – das ist Psyche. Wie kann man sich nicht dafür interessieren?

Ist es schwieriger, sich im Alter mit seinen psychischen Problemen auseinanderzusetzen und sich zu ändern?
Wenn ich zum Beispiel aufgrund meiner Kindheitsprägung Angst vor Zurückweisung habe, vermeide ich Situationen, in denen dies der Fall sein könnte, und versuche möglichst alle Erwartungen zu erfüllen. Wenn ich das 70 Jahre lang gemacht habe, sind die Autobahnen im Kopf, die synaptischen Verknüpfungen, viel breiter und tiefer eingeprägt, als wenn ich das Ganze noch nicht so lange mache. Und trotzdem können wir bis ins hohe Alter lernen, durch neue Erkenntnisse uns zu verändern. Es kommt gar nicht so selten vor, dass ältere Leute für sich noch einmal die Dinge neu sortieren. Dass sie ein anderes Verhältnis zu ihren Kindern aufbauen und sagen, es tut mir leid, ich habe damals Fehler gemacht, weil ich in meinem alten Film drin war. Wir können die Kette nur unterbrechen, wenn wir sie selber reflektieren.

Manche Menschen belastet der Krieg in der Ukraine, auch wenn sie nicht direkt betroffen sind, mehr als andere. Woran liegt das?
Menschen, die über gute Abgrenzungsfähigkeiten verfügen, haben es einfacher. Sie lassen die Dinge nicht so nah an sich herankommen und können Gedanken, die nur negativ, aber nicht hilfreich sind, gut beiseiteschieben kann. Um gegen die eigene Hilflosigkeit etwas zu tun, hilft es auch, aktiv zu werden, Menschen zu helfen, indem ich spende, Flüchtlinge aufnehme oder benötigte Güter zur Verfügung stelle.

Und wie kommt es, dass gewisse Leute während der Lockdowns mit Homeoffice gut klarkamen, andere nicht?
Introvertierte Menschen haben es etwas leichter, die brauchen nicht so viel Kontakt. Die Extrovertierten sind abhängiger von Kontakten, fühlen sich schneller einsam. Sie tanken ihre Energie auf, wenn sie in netter Gesellschaft sind. Sie sind Dopamin-gesteuert, das heisst, sie brauchen Kicks für ihr Belohnungssystem im Gehirn, langweilen sich schneller. Sie sind daher auch anfälliger für Süchte. Sie sind risikobereiter, im Schnitt besser gelaunt, können gut reden. Extrovertierte sind ganz gute Selbstdarsteller, im Extremfall auch oberflächlich. Introvertierte können sich lange konzentrieren, sind sehr viel besonnener, ihr Gehirn steht auf den Neurotransmitter Acetylcholin, das heisst, sie brauchen sehr viel mehr Sicherheit. Das merke ich zwischen Holger und mir. Er ist sehr viel mehr der Sicherheitstyp und ich sehr viel mehr der Risikotyp. Extrovertierte bauen deshalb auch mehr Unfälle.

Du beschreibst dich als extrovertiert, deinen Mann als introvertiert. Führt das zu Spannungen im Alltag?
Extros und Intros ergänzen sich ganz gut. Ich muss halt aufpassen, dass ich ihn nicht zu sehr überfordere, in Bezug auf Ansprüche an Geselligkeit. Wenn wir zu oft Gäste haben, wird es ihm manchmal zu viel, er will dann einfach auch mal seine Ruhe haben. Aber ich bin auch nicht so mega extrovertiert. Ich kann auch mal mundfaul sein, insofern ergänzen wir uns ziemlich gut.

Ist deine Extrovertiertheit mit ein Grund, warum du so viel machst? Du schreibst jetzt wieder ein Buch, gibts Seminare, machst Podcasts, hältst Vorträge.
Es würde sich für mich zu alt anfühlen, nicht mehr zu arbeiten. Solange ich arbeite, bin ich im Geschehen. Ich brauche auch Herausforderungen. Wenn ich sie gemeistert habe, bin ich stolz auf mich. Und ich mache das auch, weil ich denke, dass das, was ich zu sagen habe, interessant ist, und ich es weitergeben will. Die Podcasts mache ich, weil sie mir Spass bringen und erfolgreich sind. Es soll mir keiner erzählen, es sei nicht schön, erfolgreich zu sein. Natürlich freue ich mich, wenn mir Menschen schreiben, dass ich ihnen helfen konnte. Doch das allein ist es nicht, es ist auch der Erfolg und dass ich gutes Geld verdiene. Das ist ein Gesamtpaket. Wenn ich das so sage, klingt das natürlich nicht sehr sympathisch, aber es ist so.

Du sagtest mir, du seist eher faul. Wie überwindest du deine Faulheit, um all die Dinge zu machen?
Durch Disziplin und eine Tagesstruktur. Meine Faulheit hat auch immer etwas mit Versagensängsten zu tun. Ein Buch zu schreiben, ist ein anspruchsvolles Projekt, und ich habe jedes Mal Angst, es nicht zu schaffen. Und dann fühle ich mich etwas erschlagen und würde es am liebsten nicht machen und denke: Ich könnte doch ein schönes Leben führen, wenn ich keine Bücher schreiben würde. Aber dann denke ich wiederum: Ich will es jetzt wissen.

Wieso ist eine Tagesstruktur so wichtig?
Eine gute Tagesstruktur und Disziplin sind ein Antidepressivum, das haben viele während der Corona-Beschränkungen gemerkt, deshalb war von uns Psychologen auch einer der wichtigsten Tipps: Schaffe dir eine Struktur. Da, wo wir Wiederholung haben, haben wir positive Gewöhnung. Das verschafft Vertrauen, Sicherheit. Alles, was wir regelmässig tun, bringt auch Spass. Ich finde es viel leichter, viermal die Woche Sport zu treiben als nur einmal. Wenn ich zum Beispiel mal eine Woche kein Klavier spiele, fällt es mir viel schwerer, mich aufzuraffen, es zu tun, weil ich dann auch Angst vorm Versagen habe. Wenn man in etwas richtig gut ist, kriegt man auch richtig gute Erfolgsrückmeldungen vom Gehirn.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich feststelle: Jetzt habe ich die ganze Woche keinen Sport gemacht, was bin ich für eine Versagerin.
Das sind die berühmten Selbstkommentare. Nach dem Motto: Musst dich nicht wundern, wenn du fett wirst, du bist halt eine faule Sau. Diese Stimmen kennt jeder, damit kann man sich richtig fertigmachen. Dann braucht es so etwas wie eine mentale Disziplin, um freundschaftlicher mit sich zu reden. So wie man mit einer guten Freundin reden würde. Wenn du mir jetzt erzählen würdest: Steffi, ich war jetzt vier Tage nicht schwimmen, würde ich ja nie sagen: «Oh Anette, du bist ganz schön scheisse. Du bist nicht so der Typ, mit dem ich mich abgeben will.» So würde ich nicht reagieren, so würde ich auch nicht fühlen und gar nicht denken.

Und wie sollte ich mit mir in solch einer Situation reden?
«Meine süsse Anette, das ist doch nicht schlimm, du bist doch sonst ganz schön sportlich, ich finde es toll, was du alles machst. Das gibt es immer mal, dass man eine Flaute hat und nicht dazukommt, das gehört zum Leben dazu.»

Hast du denn solche undisziplinierten Momente auch?
Klar, ich bin ja nicht perfekt. Mein Motto ist: Sich ertappen und dann in den positiven Modus umschalten.

Bestseller-Therapeutin

Die gebürtige Hamburgerin Stefanie Stahl (58) ist die erfolgreichste deutschsprachige Psychotherapeutin. Ihr Buch «Das Kind in dir muss Heimat finden» steht seit fünf Jahren auf Platz 1 der Sachbuch-Paperback-Liste des «Spiegels». Stahl führt eine Praxis in Trier, wo sie auch studierte. Neben ihrer Tätigkeit als Therapeutin und Autorin gibt sie Seminare, hält Vorträge und betreibt zwei Podcasts. In einem, «Stahl aber herzlich», führt sie psychotherapeutische Gespräche mit Paaren und Einzelpersonen, wobei auch der eine oder andere Prominente dabei ist, wie beispielsweise der weltbekannte DJ Philipp Jaehn (37). In dem anderen, «So bin ich eben!», unterhält sie sich mit dem Psychologen und Podcaster Lukas Klaschinski (38) über zahlreiche psychologische Themen und beantwortet Briefe. Auch hier sin Prominente zu Gast, wie der Arzt und Moderator Eckart von Hirschhausen (54) oder die Schauspielerin Caroline Peters (50). Stahl ist verheiratet und beschäftigt zwischen 10 und 14 Angestellten.

Die gebürtige Hamburgerin Stefanie Stahl (58) ist die erfolgreichste deutschsprachige Psychotherapeutin. Ihr Buch «Das Kind in dir muss Heimat finden» steht seit fünf Jahren auf Platz 1 der Sachbuch-Paperback-Liste des «Spiegels». Stahl führt eine Praxis in Trier, wo sie auch studierte. Neben ihrer Tätigkeit als Therapeutin und Autorin gibt sie Seminare, hält Vorträge und betreibt zwei Podcasts. In einem, «Stahl aber herzlich», führt sie psychotherapeutische Gespräche mit Paaren und Einzelpersonen, wobei auch der eine oder andere Prominente dabei ist, wie beispielsweise der weltbekannte DJ Philipp Jaehn (37). In dem anderen, «So bin ich eben!», unterhält sie sich mit dem Psychologen und Podcaster Lukas Klaschinski (38) über zahlreiche psychologische Themen und beantwortet Briefe. Auch hier sin Prominente zu Gast, wie der Arzt und Moderator Eckart von Hirschhausen (54) oder die Schauspielerin Caroline Peters (50). Stahl ist verheiratet und beschäftigt zwischen 10 und 14 Angestellten.

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