Viele Schweizer wissen nicht, woran sie leiden
Seltene Krankheiten sollen endlich erkannt werden

Für Pia B. und Leon K. ist es schon ein Wunder, dass sie wissen, woran sie leiden: Bei seltenen Krankheiten kann eine Diagnose Jahre dauern. Das wollen sechs neue Schweizer Spitalzentren jetzt ändern.
Publiziert: 12.09.2020 um 14:27 Uhr
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Aktualisiert: 02.03.2021 um 08:07 Uhr
Eliane Eisenring

Schon als Kind merkte Pia B.*, dass etwas nicht stimmte: «Im Turnen bin ich nie die Stange hochgekommen, und im Rennen war ich nicht schnell, obwohl ich sehr leicht war.» Die heute 50-jährige Pia B., die anonym bleiben möchte, sitzt in einem Café am Zürcher HB. Von ihrem Umfeld wurde sie nicht ernst genommen, fährt sie fort: «Es hiess dann immer: ‹Du bist einfach ein bisschen bequem oder ein bisschen faul, du musst eben mehr Sport machen.›» Der Weckruf war ein Schwächeanfall, den Pia B. als 14-Jährige auf einem Skiausflug erlitt: «Da hat dann auch meine Mutter gesagt: Hier stimmt was nicht. Von da an habe ich mich auf die Suche gemacht, die 30 Jahre dauerte.»

Pia B. lebt seit 50 Jahren mit Gliedergürteldystrophie, die Muskelschwäche und Lähmungen zur Folge hat. Als eine von ungefähr 580’000 Personen in der Schweiz ist sie von einer seltenen Krankheit betroffen. Mit weniger als fünf Fällen pro 10'000 Einwohnern sind diese Krankheiten nur schwer zu bestimmen und für die Pharmaforschung nicht lukrativ. Die Patienten leiden oft jahrelang, ohne zu wissen woran.

Das soll sich nun ändern: Seit Juni 2020 gibt es in der Schweiz sechs von der Nationalen Koordination Seltene Krankheiten (Kosek) anerkannte Zentren für die Diagnose solcher Krankheiten. Damit hat die Kosek einen Teil des Bundeskonzepts Seltene Krankheiten umgesetzt, das 2014 beschlossen wurde. Das Ziel der Zentren in Basel, Bern, Genf, Lausanne, St. Gallen und Zürich: Die Situation für Patienten mit einer seltenen Krankheit verbessern. Das ist bitter nötig.

Unerklärliche Beschwerden: Seltene Krankheiten sind schwierig zu diagnostizieren, und Patienten leiden oft jahrelang, ohne zu wissen, woran.
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Fehlende Zuständigkeit bei den Spitälern

Diese Erfahrung hat auch Iris K.* gemacht: Ihr zwölfjähriger Sohn Leon wurde vor drei Wochen mit Phytosterolämie diagnostiziert. Sein Körper kann keine pflanzlichen Fette ausscheiden, was zu einer hohen Fettkonzentration im Blut führt. Dreieinhalb Jahre lang war Leon wegen undefinierter Symptome in Behandlung. Seine Mutter erzählt: «Er hatte seltsame Schmerzen, und es bildeten sich Verformungen: Seine Hände sehen aus, als ob er Arthritis hätte, er hat eine verdickte Achillessehne und etwas, was aussieht wie ein Hallux, einen Ellbogen so gross wie eine Mandarine. Und es wurde laufend schlimmer.» Eineinhalb Jahre lang behandelte man Arthritis, erst auf Initiative der Mutter wurde die Behandlung gestoppt: «Man hat einfach gespritzt und gespritzt, obwohl man keine Verbesserung sah. Nach 18 Monaten fand ich, das könne man nicht länger verantworten.»

Die richtige Diagnose ist dem Laborbericht von der Operation des Ellbogens geschuldet. Das Papier verschwand zuerst für drei Monate in der Versenkung und wurde nur auf Iris K.s Drängen hin überhaupt angeschaut: «Nach mehrmaligem Nachfragen von meiner Seite haben sie den Bericht endlich geschickt. Die Operation war im Februar, der Bericht kam im Juni. Und darin stand: Das am Ellbogen waren Fettablagerungen. So kam man auf die Idee.»

Was Iris K. erschreckte, war das fehlende Interesse und Zuständigkeitsgefühl der Ärzte: «Wenn der Chirurg sich nur fünf Minuten überlegt hätte, was mit dem Ellbogen los ist und nicht einfach damit zufrieden gewesen wäre, ihn zu operieren, dann hätte er vielleicht nachgefragt, wo der Bericht bleibe, das hat er aber nie.» Frustrierend war auch die fehlende Zusammenarbeit der Mediziner: «Als ich fragte: ‹Sprechen Sie mit anderen Ärzten?›, wurde mir gesagt: ‹Ich kann Sie gern nach Zürich oder Basel verweisen›, als wäre es ein Vertrauensentzug, wenn ich diese Frage stelle. Ich war so enttäuscht. Diese Leute hocken nebeneinander und reden nicht, das ist schon verrückt.»

Der mangelnde Austausch soll laut Martin Knoblauch, Vorstandsmitglied der Kosek, durch die neuen Zentren behoben werden: «Mehrere Ärzte und Spezialisten werden zusammensitzen und sich beraten. Das hilft, zu einer schnelleren Diagnose zu kommen.» Das gilt auch zentrumsübergreifend. Der Leiter des Zentrums für seltene Krankheiten in Bern, Jean-Marc Nuoffer, erklärt: «Über Kosek gibt es eine Koordinationsgruppe. Mehrmals jährlich treffen wir uns zum Erfahrungsaustauch und zur Projektbearbeitung.» Überdies sind die Zentren eine klare Anlaufstelle: «Es geht um eine bessere Visibilität für Patienten: Wo kann ich mit einer seltenen Krankheit hin? Und für Ärzte: Wohin kann ich einen Patienten schicken?»

Die Diagnose als Schlüssel

Für Patienten mit einer seltenen Krankheit verändert eine Diagnose alles. Pia B., die ihre Krankheit 30 Jahre lang nicht kannte, betont: «Es ist viel besser akzeptiert, wenn man sagen kann: ‹Ich habe dies.› Wenn man das nicht kann, fällt man überall durch die Maschen, sozial, aber auch versicherungstechnisch. Man hat etwas, je nachdem etwas Gravierendes, aber es ist nicht anerkannt, und man bekommt auch keine Hilfe.»

Eine erste Diagnose erhielt Pia B. schon im Alter von 21 Jahren. Diese stellte sich zwar als falsch heraus, half aber psychisch: «Es war für mich wichtig zu wissen, dass ich nicht spinne. Man hat wirklich gesehen, da ist was nicht in Ordnung. Lange hatte ich das Gefühl, das haben vielleicht alle, nur ich bin besonders wehleidig.» Die richtige Diagnose wurde erst vor fünf Jahren gestellt: «Der Gentest dafür kostete ein paar Tausend Franken. Ich habe das privat bezahlte Geld von der Versicherung zurückbekommen. Aber ohne Diagnose läuft gar nichts, und deren Fehlen kann satte finanzielle Folgen haben. Deshalb lohnt es sich, nicht aufzugeben.» Auch für Iris K. war die Diagnose ihres Sohns eine Befreiung: «Das Gefühl des Alleinseins und der Verzweiflung war riesig. Erst jetzt kann ich diese schwere Zeit einordnen und davon erzählen.»

Die grösste künftige Herausforderung für die Zentren sind die Kosten: «Die jetzigen Zentren werden vom zugehörigen Spital finanziert, für öffentliche Gelder fehlt die rechtliche Grundlage», erklärt Knoblauch von der Kosek. «Wir bleiben dran, es wurde auch eine Initiative zum Thema eingereicht.» Ein weiteres Problem ist die steigende Nachfrage: Wenn sich schon nur ein Prozent der Patienten mit seltenen Krankheiten melden, hätten die Zentren für diese 4000 Personen kaum genügend Ressourcen. Seit Juni hat das Zentrum in Bern schon mehr als fünfzehn Dossiers von undiagnostizierten Patienten erhalten.

Für die Zusammenarbeit der Ärzte haben sich die Zentren aber bereits ausgezahlt. Iris K. hat während der noch jungen Betreuung im Berner Zentrum festgestellt: «Das Gefühl, dass da ein ganzes Team am gleichen Strang zieht, ist ein radikaler Unterschied. Wir werden vollständig informiert, mein Kind wird mit einbezogen. Und gerade in dieser ersten Zeit nach der Diagnose wurden wir auch menschlich sehr gut unterstützt.» Leon spürt bereits die Folgen der richtigen Behandlung: Er hat endlich einen normalen Appetit. Bald kann er hoffentlich nach der Schule wieder mehr tun als schlafen. Auch Pia B. ist optimistisch: «Jetzt, da ich weiss, was mir fehlt, kann ich die neusten Entwicklungen in Sachen Medikamente mitverfolgen.» Und sie hofft, dass die Zentren dazu führen, dass die Öffentlichkeit seltene Krankheiten vermehrt ernst nimmt.

* Namen geändert

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