Tabu-Thema Tod
Sterben tun nur die anderen

Er gehört zum Leben und ist gleichzeitig sein Ende: der Tod. Übers Sterben zu sprechen, ist zwar leichter geworden, doch es bleibt ein Tabu. Vom Umgang mit dem Unvermeidbaren.
Publiziert: 20.04.2016 um 17:04 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 06:50 Uhr
Attila Albert

Wie jemand wirklich über sein Leben denkt, lässt sich mit einer einfachen Frage feststellen: Was denkst du über den Tod? Das mag düster klingen, doch ein Gespräch über das eigene Sterben ist erhellend: Es legt unsere tiefsten Gedanken offen. Wer zufrieden und erfüllt im Leben steht, sieht auch dem Tod gelassener entgegen: Er hat alles, wonach ihm ist. Wer aber meint, viel verpasst zu haben und noch viel erleben zu müssen, fürchtet ihn, schiebt ihn weit weg. Und wer leidet, sehnt sich danach – für ihn erscheint der Tod als Erlösung.

Der Tod kommt trotz High-Tech-Medizin

Noch nie wurde im Privaten so sehr über das Sterben nachgedacht, der eigene Tod vorausgedacht wie in den letzten Jahren. Die Fernsehserie «Der Bestatter» hat bei uns grossen Anteil daran. Trotzdem bleibt der Tod ein öffentliches Tabu, wird oft nicht einmal mit dem Partner besprochen. Vor unserer Gesellschaft, in der heute alles möglich sein soll, steht er als letztes, unwiderlegbares Faktum. Ein dunkles Tor, durch das trotz aller Medizintechnik jeder einmal muss.

«Es ist Angst vor dem Ungewissen, vor Schmerzen und unerledigten Dingen, die da plötzlich an die Oberfläche treten», sagt der Berliner Sterbeforscher und Buchautor Bernard Jakoby (58, «Was geschieht, wenn wir sterben?»). «Der eine schiebt all das weg von sich, der andere setzt sich früh damit auseinander.»

Der Philosoph Elias Canetti schreibt von einem heimlichen Gefühl des Triumphs, das wir beim Blick auf Gräber hegen: «Sie sind tot, wir leben noch.»
Foto: Alessandro della Bella

Trotz Statistiken: Der Tod ist unberechenbar

«Mitten im Leben sind wir mit dem Tod umfangen», heisst es in einem alten französischen Kirchenlied, dessen deutschen Text Luther geschrieben hat. Es warnt vor der Illusion, dass wir den Tod kontrollieren könnten. Doch die Fähigkeit, das eigene Sterben zu einem Zeitpunkt, der uns unbekannt bleibt, als Teil des Lebens anzunehmen, muss man sich erarbeiten: Es ist eine grosse Leistung, das Unabwendbare als sinnvoll zu akzeptieren, als Teil von Grösserem.

Die Sterbetafeln unseres Statistik-Zeitalters, von Behörden und Versicherungen, vermitteln einen falschen Eindruck: Berechenbarkeit. Ein Schweizer stirbt heute mit 81,0 Jahren, lesen wir darin, und eine Schweizerin mit 85,2 Jahren. Wer hat nicht schon in Gedanken überschlagen: Wie viel Zeit bleibt mir noch? Wer ist schon nah daran, welcher ältere Verwandte oder Freund ist eigentlich «überfällig»?

... und wahllos

In Wahrheit ist der Tod völlig wahllos. Er holt sich das Neugeborene, den Uralten – und irgendwann alle dazwischen. Manche scheint er fast zu vergessen, etwa Rosa Rein, die 2010 in Paradiso bei Lugano starb, 112 Jahre und 327 Tage alt. Auch sie, die älteste Schweizerin, traf ihn am Ende.

Es kann erhellend sein, die Todesfälle im persönlichen Umfeld durchzugehen. Denn schnell wird sichtbar, dass es jeden Tag so weit seit kann. Alles andere sind Augenwischereien. Der Autor dieses Artikels beispielsweise verlor mit zwölf eine Schulfreundin an Leukämie, einen gleichaltrigen Freund 42-jährig nach einer Virusinfektion und Grosseltern im Alter von 54, 67 und 81 Jahren. Den zweiten Mann der Grossmutter, als Landwirt auf dem Traktor unterwegs, erfasste ein Zug. Eine entfernte Verwandte, Anfang 70 und kerngesund, wurde auf dem Weg zum Zahnarzt überfahren. Der Mann einer Kollegin, 39 Jahre alt und drei Kinder, erlitt im Schlaf einen tödlichen Hirnschlag.

Sterbeforscher Jakoby sagt über die Unsicherheiten des modernen Menschen: «Viele sind sich nicht einmal darüber im Klaren, ob ein Jenseits wirklich existiert.» Er sieht Nahtodberichte als Beleg dafür an, die Wissenschaft ringt bisher um eine Deutung, in Konkurrenz mit den klassischen Religionen.

Dass Glauben in den letzten Tagen oft kein Trost ist, hört Thomas Giuliani (49) aus Rüttenen SO immer wieder. Er begleitet ehrenamtlich Sterbende. Viele fürchten eher, sie seien nicht gut genug für den Himmel.

Schock kann zur Freiheit werden

Wer in unerwartet frühen Jahren mit seiner Vergänglichkeit konfrontiert wird, zum Beispiel nach einer Krebsdiagnose, spürt nach dem ersten Schock häufig grosse Freiheit: All das, was vorher so wichtig war, entfällt. Weiss man die letzten Monate vor sich, denkt keiner mehr an die erhoffte Beförderung oder an das nächste iPhone.

Die krebskranke Romy Hänni (64,) aus Evilard BE hat bereits ihre Beerdigung organisiert und bezahlt. Sie zählt auf, was bleibt: Die Liebe von Familie und Freunden, die Reflektion über den Sinn des eigene Lebens, noch mal verreisen. Drei Millionen lasen den Blog der Australierin Bronnie Ware (47), die Todkranke betreute. Sie zählte fünf Dinge auf, die kurz vor dem Tod fast alle bereuen: zu viel gearbeitet, sich zu sehr nach anderen gerichtet, zu wenig Gefühle gezeigt, zu wenig Zeit für Freunde und zu wenig Glück gelebt zu haben.

Unter diesem Blickwinkel kann das Nachdenken und Reden über den eigenen Tod eine heilsame Erfahrung sein: die Erkenntnis, dass eine Kurskorrektur nötig wäre – und dafür genau jetzt die Zeit ist.

Deshalb lohnt sich ein Mittagsschläfchen 

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