Massloses Essen und Trinken verlangt Medis
Pülverchen nach der Party

Wir trinken, essen und trainieren oft ohne Mass – und geben dann kräftig Gegensteuer. Psychologen sagen, wir wägen die Konsequenzen falsch ab.
Publiziert: 22.09.2017 um 13:15 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2018 um 15:51 Uhr
Alexandra Fitz

Am Anfang war der Kater. Okay, nein, zuerst waren die Drinks, die Kollegen und die Kölner Nacht. Diese Kombination veranlasste den 33-jährigen Pedro Schmidt, in Apotheken und Drogerien etwas zu kaufen, damit der ­Kater sich aus dem Staub macht. Doch es gab kein spezifisches Mittel. Zurück in der Schweiz hatte der Pharmazeut ein Ziel: ein Hangover-Medikament entwickeln. Er kündigte seinen Job bei einem grossen Pharmakonzern und begann, an einem Anti-Kater-Pülverchen zu tüfteln. Diese Woche kam KAEX Basic in der Schweiz auf den Markt: 25 natürliche Substanzen – wie Elektrolyten, Vitamine, Zink – sollen den Alkoholabbau im Körper unterstützen.

Erst die Völlerei, dann die Vernunft

Wir übertreiben, und weil wir wissen, dass das negative Folgen hat und das schlechte Gewissen lauert, bereiten wir uns schon auf den Gegenangriff vor. Mit Medikamenten oder rigorosem Verzicht. Nicht nur beim Trinken, auch beim Essen zeigt sich die Masslosigkeit. Schlemmen und schlemmen. Kalorien? Mass? Nicht jetzt. Es folgen radikale Diäten und Fitnesscenter-Abo. Wäre man massvoller geblieben, müsste man sich danach nicht kas­teien.

Die ganz Schlauen essen fettige Speisen, trinken säurehaltige Getränke und werfen den Säureblocker gleich hinterher. Rennie räumt den Magen auf. «Dank Rennie esse ich jetzt Sachen, von denen ich genau weiss, dass ich sie nicht vertrage», erzählt etwa ein Kollege. Beim Sport verausgaben wir uns und jammern im Solebad über Muskelkater. Auf die sonnenverbrannte Haut schmieren wir Cremes, und wir überarbeiten uns, um dann von Stress, Überlastung oder Burnout zu faseln.

Alles, viel und schnell. Bis das schlechte Gewissen kommt.
Foto: Thinkstock

«Massloser als früher»

«Wir sind massloser als früher», sagt Nicole Meybohm, ernährungspsychologische Beraterin. «Die Verfügbarkeit von Essen führt zu einer gewissen Grenzenlosigkeit. Viele haben verlernt, auf Körper­signale zu achten.» Bin ich satt? Keine Ahnung. Dies führe auch zu masslosem Überessen. «Wir essen, weil es da ist, weil gerade Zeit ist, weil es ein Gefühl in uns befriedigt – nicht wegen des primären Grundes Hunger.» Der Mensch hört nicht mehr auf seinen Instinkt, isst nicht mehr vernünftig.

Doch wie passt das zusammen? Heisst es doch ständig, die Gesellschaft neige zum Gesundheitsfanatismus. Diese Strenge ver­anlasst die Gesellschaft jedoch, ­orgienmässig durchzustarten, und führt zu einer ambivalenten Haltung: Einerseits diese hohen Ansprüche an sich selbst, an den Körper. Nicht zunehmen, gesund essen: «Je mehr wir uns diesem eigenen Diktat unterwerfen, desto weniger flexibel sind wir beim Essen und Trinken.» Und übertreibt man, muss man ­sofort gegensteuern, sonst hat man das Gefühl, versagt zu haben.

Das Jetzt zählt

Professor Joachim Westenhöfer beschäftigt sich mit dem Gesundheitsverhalten der Menschen und weiss, wie man dieses Veralten psychologisch erklären kann: «Wir hätten alle gerne die einfache Knopfdrucklösung für komplexe Probleme.» Der Mensch gewichtet kurzfristige Konsequenzen wichtiger als langfristige. Beispiel: Die Bar, die Drinks, die Atmosphäre ­sehen wir als kurzfristigen Genuss, und der Kater vom nächsten Morgen ist noch weit weg.

Es ist gerade das Verbotene, das Schädliche, das diese Dinge so erhaben macht. Der österreichische Philosoph Robert Pfaller meint: Ohne Stachel kein Genuss. Genuss-Substanzen sind mit Problemen behaftet. Teuer, ungesund oder giftig. In rauen Mengen sowieso. «Das problematisch Lustvolle bricht die ökonomische Logik des Haushaltens – die Vernunft, mit unseren Kräften heute so umzugehen, dass wir morgen noch welche haben. Die unvernünftige Verausgabung beschert uns einen Triumph», sagte der Philosoph in einem «Spiegel»-Interview.

Mitmachen ja, Verantwortung nein

Wir wollen heute überall mitmischeln, aber keine Verantwortung für unser Handeln übernehmen. Meybohm glaubt, dass der Mensch Schwierigkeiten hat, Nein zu sagen. Dieser Meinung ist auch Monique Portner-Helfer von SuchtSchweiz. Laut Portner-Helfer wird Alkohol aus Gewohnheit getrunken, nicht aus Lust. Und weil ihn die Kollegen bestellen. Rituale wie das Bier nach der Arbeit gehören für viele dazu.

«Wir leben in einem Umfeld, in dem Leistung in Arbeit und Freizeit einen hohen Stellenwert hat», sagt die Suchtexpertin. Der Leistungsdruck treffe auf das fehlende Problembewusstsein bei Substanzen und die hohe Risikobereitschaft. Weil die Gesellschaft Genuss und Leistung will, trifft Kater-Forscher Schmidt ins Schwarze: «Die Menschen sind heute gesundheits­bewusster, Alkohol spielt aber aus ­gesellschaftlichen Gründen selbstverständlich nach wie vor eine wichtige Rolle. Mein Kater-Mittel verbindet beide Welten auf modernste Art und Weise.»

Verantwortung, aber bloss ­keine rigiden Regeln

Portner-Helfer glaubt nicht an Wundermittel gegen Kater. Helfen würden nur drei Dinge: Abstinenz, massvolles Trinken oder Geduld im Nachhinein, falls die ersten beiden Vorsätze unberücksichtigt blieben. Schmidt weiss natürlich, dass die Schontaktik die beste ist. Doch er kennt auch die Realität. Die besteht oft aus Lügengschichtli, die dem Arbeitgeber aufgetischt werden. Er rechnet vor, wie viel Milliarden den Unternehmen durch die Lappen gehen aufgrund verkaterter ergo unproduktiver Mitarbeiter. Eine Londoner Firma gibt seinen Mitarbeitern bei Kater frei. Bis zu vier Tage im Jahr dürfen sie sich die Bett­decke über den Kopf ziehen und mit ihrer Fahne zu Hause bleiben.

Unterstützt so ein Mittelchen aber nicht den Griff zum Drink? Viele Partyfüchse lagern bereits ­Alka-Seltzer und Pillen-Cocktails auf dem Nachtkästchen. Damit der Kater am nächsten Morgen ja nicht um ihre Beine schleicht und zur Tür rein will. Der moderne Mensch muss ja «performen». Schmidt glaubt nicht, dass sein Pülverchen ein Freipass für einen hohen Alkoholkonsum ist. Die Gründe dafür seien tief in unserer Gesellschaft verankert.

Die Psychologen raten: Wir sollten aufhören, in Schwarz und Weiss, in Gesund und Ungesund zu denken. Ständig bewerten wir Essen und Trinken. Die Balance zu finden, sei ein Lebensthema, weiss Meybohm. Doch die Mitte sei eben das Ziel. Sich seiner Motive bewusst sein, auf seine Gefühle und Signale achten, flexibel sein, Verantwortung übernehmen – aber bloss keine ­rigiden Regeln.

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