Immunologe Stéfan Halbherr kritisiert BAG
Wieso hat die Schweiz keinen eigenen Impfstoff?

Warum hat die Schweiz eigentlich keinen eigenen Impfstoff? Kritiker wie der Immunologe Stéfan Halbherr sagen: Weil das BAG eine Vogel-Strauss-Politik betreibt. Wird sich in Zukunft daran was ändern?
Publiziert: 06.02.2021 um 13:56 Uhr
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Aktualisiert: 10.02.2021 um 15:23 Uhr
Silvia Tschui

In einem Berner Labor steht ein funktionierender Covid-19-Impfstoff in einem Kühlschrank. In unserem Körper werden wir ihn nie haben. Entwickelt hat ihn Stéfan Halbherr (35) mit seinem Team. Der Berner Gründer der Medizinalstoff-Entwicklungsfirma InnoMedica Holding AG mit 41 Mitarbeitern hat an der Uni Bern einen Bachelor in Biochemie abgeschlossen, sich in seinem Master auf Immunologie spezialisiert und schliesslich in Vakzinologie (Impfstoff-Forschung und -Entwicklung) sowie Virologie doktoriert. Er ist vom Fach und hat den fertig entwickelten, funktionierenden Covid-19-Impfstoff seit letztem Oktober bereit.

Auch Steve Pascolo (50) von der Universität Zürich, dessen Forschung eigentlich die Grundlage für die neue mRNA-Technologie bildet, die für den Pfizer/Biontech-Impfstoff verwendet wurde (SonntagsBlick berichtete), hätte längst mit einem Schweizer Impfstoff aufwarten können. Oder diverse andere Schweizer Forscher wie Martin Bachmann, Professor für Immunologie an der Universität Bern. Doch es gibt keinen Schweizer Impfstoff.

Pharma-Branchenorganisation verweist auf Herausforderungen

Warum liegen diese Impfstoffe in Kühlschränken herum, statt längst lokal produziert und flächendeckend verteilt zu werden? Samuel Lanz, Mediensprecher der Interpharma, des Branchenverbands der forschenden Pharmaindustrie, sagt, die Entwicklung, Produktion und Verteilung von Impfstoffen sei eine grosse Herausforderung für Pharmaunternehmen. Branchenriesen wie Roche oder Novartis seien aber nicht in der Impfstoffentwicklung tätig.

In einem Berner Labor steht ein funktionierender Covid-19-Impfstoff in einem Kühlschrank.
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Kleinere Pharmaunternehmen, sagt Lanz, hätten oftmals alleine nicht genügend Ressourcen, um diese Herkulesaufgabe zu stemmen. «Sie müssen bedenken, dass man einen Impfstoff, nachdem man alle, äusserst strikten, Auflagen erfüllt hat, schliesslich an bis zu 40'000 Menschen testen muss.» Erst dann, nach Auswertung aller möglichen Reaktionen dieser Testpersonen, könne eine generelle Zulassung erfolgen. «Kleinere Start-ups kommen so schnell an ihre Grenzen.»

Impfstoffentwickler Halbherr widerspricht dem vehement. Dass 40'000 Testpersonen für ein Start-up oder eine kleinere Pharmafirma kaum aufzutreiben seien, lässt er nicht gelten: «Es gibt diverse Firmen, die sich auf genau solche Testreihen und Auswertungen spezialisiert haben – einen solchen Auftrag lagert man aus, das tun die grossen Impfstoffentwickler auch.»

Dass sein Schweizer Impfstoff nicht im grossen Stil hergestellt wurde, habe allein mit der vorsichtigen Haltung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) zu tun, das sich eher als Konsument auf internationalem Parkett, statt als ein Innovationstreiber sehe. «Im Frühling 2020 sind wir beim Bundesamt für Gesundheit auf reges Interesse gestossen», sagt er. Dann habe das BAG seiner Firma aber immer neue, aus seiner Sicht teilweise unsinnige Auflagen gemacht, die er erst erfüllen müsse. Erst danach würde er das nötige Geld erhalten, um eine grossflächige Produktion zu ermöglichen.

Trotzdem haben er und sein Team es geschafft, all diese Auflagen bis Oktober zu erfüllen. «Durch die Machbarkeit unter Druck», sagt Halbherr, «befand das BAG plötzlich, internationale Firmen seien da weiter, und das BAG würde sich lieber dort weiter umsehen». 45 Millionen Franken Anschubfinanzierung hätte es im Oktober gebraucht, um den fertigen Impfstoff in grossem Masse herzustellen, sagt Halbherr.

45 Millionen zur Impfstoffentwicklung waren zu viel

Dieses Geld wollte das BAG nicht ausgeben. In der SRF-Sendung «Puls» vom 4. Januar dieses Jahres verteidigt Nora Kronig, Vizedirektorin des Bundesamts für Gesundheit, diese Entscheidung mit dem Satz: «Wir dürfen in der Schweiz keine Industriepolitik betreiben.»

Industriepolitik, erklärt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) auf Anfrage, bedeutet Folgendes: «(…) die gezielte Beeinflussung der sektoralen (einzelne Fachgebiete; Anmerkung d. Red.) Produktionsstruktur einer Volkswirtschaft durch den Staat. Zielobjekt der Industriepolitik sind stets Teilbereiche (i.d.R. Branchen), nicht die Volkswirtschaft als Ganzes.» Auf verständliches Deutsch übersetzt bedeutet Kronigs Aussage also, dass die Schweiz keine einzelnen Branchen fördern dürfe. Nur stimmt das nicht. Aus dem Seco stammt die Richtigstellung: «Es gibt in der Schweiz kein gesetzliches Verbot von Industriepolitik.» Das BAG hätte also durchaus die Möglichkeit gehabt, die Produktion von landeseigenen Impfstoffen zu ermöglichen.

Halbherr fasst es so zusammen: «Die Schweiz hat eine einmalige Chance verpasst, eine in der Impfstoffentwicklung international führende Rolle einzunehmen.»

Kopf in den Sand, nichts gelernt

Bleibt die Frage, ob die Behörden daraus etwas gelernt haben. Stellt nun die Schweiz Notfallgroschen für die Impfstoffentwicklung für künftige Pandemien bereit? Das BAG gibt sich auf Nachfrage wortkarg: «Die Schweiz verfügt über einen Reservationsvertrag, um einer zukünftigen Grippe-Pandemie» zu begegnen», antwortet Mediensprecherin Katrin Hollenstein auf Anfrage knapp.

Erst nach zweitem Nachhaken wird klar: Die Schweiz reserviert in jährlich neu ausgehandelten Verträgen mit dem Grippe-Impfstoff-Hersteller Sequirus Impfstoffdosen für eine potenzielle Vogelgrippe-Mutation. Über die Höhe dieser Reservation schweigt sich das BAG aus.

Auch hinsichtlich zukünftiger Pandemien wird die Schweiz also abwarten und schliesslich einen von ausländischen Firmen entwickelten Impfstoff reservieren – obwohl im Land entwickelte Impfstoffe vorhanden wären. Pläne, von ausländischen Pharmagiganten unabhängig zu werden und – wenn auch verspätet – trotzdem noch eine Innovations-Vorreiterrolle einnehmen zu können, gibt es nicht.

Schweizer Virologe: «Wir können uns das leisten»

Forscher wie Halbherr sehen aber noch nicht alles verloren. «Es ist nie zu spät, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen. Wir brauchen einen eigenständigen Plan, wie wir mit Infektionskrankheiten in Zukunft umgehen wollen», sagt der Virologe. Dieser Plan müsse sicherstellen, dass wir auch bei neuen Pandemien innert kurzer Zeit genügend Impfstoff für die Schweiz und andere Nationen herstellen können.

Ethisch gesehen sei das die einzige wirklich gute Lösung. «Wir sind ein reiches Land, wir können uns das leisten, und wir tragen da auch Verantwortung. Ein solches Programm könnte die Dauer künftiger Lockdowns verkürzen und das Vertrauen der Bevölkerung in die Qualität der Impfstoffe steigern», sagt Halbherr und weist darauf hin, dass ein solches Vorgehen für die Schweiz auch ökonomisch gewinnbringend wäre – weil die Herstellung im Land Arbeitsplätze generieren würde. Gleichzeitig könnten so eventuelle Lockdowns stark verkürzt und unsere Volkswirtschaft weniger belastet werden.

Schweizer Impfstoff günstiger in Herstellung

Von den Geschehnissen des letzten Jahres könnten seine Firma und auch andere Forscher mit oder ohne BAG stark profitieren. «Wir haben so viel aus der Covid-Impfstoffentwicklung gelernt, so viele Kontakte knüpfen können, dass wir bei einer H5N1-Vogelgrippe-Mutation oder bei einem anderen Virenstamm voraussichtlich sehr schnell reagieren können», sagt der Virologe. Voraussetzung hierfür wäre aber ein entschlossenes Mitwirken des BAG.

Dass dies eher unwahrscheinlich ist, zeigen jüngste Recherchen des SonntagsBlicks von letzter Woche: Janssen, eine in Bümpliz BE angesiedelte Tochterfirma des US-Giganten Johnson & Johnson, hat einen neuen, funktionierenden Impfstoff mitentwickelt, der mit nur einer Impfdosis einen 85-prozentigen Schutz vor schweren Erkrankungen liefern soll. So ist er auch günstiger in der Herstellung als die bislang zugelassenen Impfstoffe. Die EU und die USA haben sich bereits Millionen von Impfdosen gesichert. Das BAG verhandelt noch.

Zögert das BAG auch in Zukunft so weiter, werden sich innovative Schweizer Forscher wie Halbherr und Pascolo an Partner im Ausland wenden müssen – und die Schweiz wird trotz ihres starken Innovationspotenzials von ausländischen Konzernen abhängig bleiben.

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