Zu Besuch auf dem Mittelaltermarkt
Am Wochenende haben wir die Pest

Mittelaltermärkte boomen – auch dank Serien wie «Game of Thrones». Doch Corona bedroht die Szene. Ein Besuch in Hilfikon AG, wo sich am Wochenende Wikinger, Ritter und Burg-Gesindel trafen. Das Motto der Veranstaltung: ausgerechnet die Pest.
Publiziert: 03.10.2020 um 11:21 Uhr
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Aktualisiert: 28.06.2023 um 09:42 Uhr
Im Mittelalter wurden die Opfer der Seuche mit einem Pestwagen eingesammelt. Hier stellen zwei Männer am Mittelaltermarkt «Wums» den Vorgang nach.
Foto: Lea Ernst
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Lea Ernst

Zwei Gestalten mit schnabelartigen Masken ziehen einen Holzkarren über den matschigen Weg. «Bringt eure Toten!», rufen sie und läuten eine kleine Glocke. Die Pestglocke. Mit ihren Masken sehen die beiden Leichenträger aus wie Raben, der Regen peitscht ihnen um die Schnäbel. Wir schreiben das Jahr 2020. Doch in Hilfikon AG fühlt es sich vergangenes Wochenende an wie im Jahr 1347. Zum dritten Mal findet der Mittelaltermarkt «Wums» statt. Das Motto? Pest. Ausgerechnet.

Eigentlich boomt das Mittelalter. Allein in der Schweiz gibt es über 50 Gruppen und Vereine, die sich zusammengeschlossen und auf eine bestimmte Zeitspanne, Kampfpraktik oder einen sozialen Rang von damals spezialisiert haben. Sie treffen sich an Turnieren und auf Mittelaltermärkten. Und das Interesse steigt stetig: Gemäss dem Mittelalter-Portal mirimor.ch waren es im Jahr 2013 schweizweit noch 40 jährliche Veranstaltungen rund ums Mittelalter – 2019 waren es bereits doppelt so viele.

Doch dann kam Corona. Und die Pandemie bedroht die Mittelalterszene. «Wums» ist dieses Jahr der einzige grosse Mittelaltermarkt in der Schweiz, normalerweise gibt es über 20.

Die Standbesitzer müssen sich umorientieren

In Hilfikon tummelt sich ein buntes Volk von Mittelalter-Freaks. Marktfahrende, die typisch mittelalterliche Dinge verkaufen. Sogenannte Heerlager, die sich hobbymässig zu Clans zusammengeschlossen haben und in ihren Zelten das damalige Leben nachstellen. Und zuletzt natürlich die Besucher, viele davon selber in entsprechendem Gewand. Sie alle machen sich Sorgen.

«Wir hatten keine schlaflosen Nächte», sagt Jera (34) vom Marktkomitee, «sondern schlaflose Monate.» Jera ist ihr Mittelalter-Name. In der Szene kennt man sich oft nur unter diesem. Sie habe den Jahrmarkt mit ihrem Mann Höiu (36) dieses Jahr gleich mehrmals organisieren müssen. Immer wieder mussten sie ihn den aktuellen Sicherheitsvorschriften anpassen. Warum sie ihn nicht einfach abgesagt haben? «Für die Marktfahrenden», sagt Höiu. «Sie hatten seit den Weihnachtsmärkten 2019 keine Einnahmen mehr.» Deshalb möchte das Komitee ihnen dieses Jahr auch die Standgebühren mittels Spenden erlassen.

Ein Fünftel der Marktfahrenden sei schon jetzt nicht mehr aufgetaucht, sagt Höiu besorgt. «Sie mussten sich ein anderes Einkommen suchen.» Die Standbesitzer reisen normalerweise von Mittelaltermarkt zu Mittelaltermarkt und verkaufen Dinge wie Honigmet, Naturkosmetik oder typisch mittelalterliche Instrumente wie Okarinas. Und auch diejenigen Marktfahrenden, die ans «Wums» gekommen sind, müssen das Mittelalter in Teilzeit verlassen. So arbeitet die Schmuck- und Lämpchenverkäuferin neuerdings im Papiliorama, und der Bogen-Verkäufer liefert Essen aus. Auch Jera und Höiu haben auf ihre erlernten Berufe zurückgreifen müssen. Normalerweise reisen die beiden ebenfalls von Markt zu Markt. Höiu ist nun wieder Maler, Jera wieder Sozialpädagogin. «Wir sind froh, dass wir diese Möglichkeit haben, sagt Jera. «Aber es ist nichts, wo unser Herzblut fliesst.»

Für die schauspielernde «Bevölkerung» der Veranstaltungen, die Heerlager, ist das Mittelalter zwar keine Einkommensquelle. Doch auch für sie fällt ein wichtiger Teil ihres Lebens weg. An den Wochenenden verwandeln sie sich in Wikinger, Bogenschützen oder Burg-Gesindel und zeigen den Besuchern, wie der Alltag in den Zelten ihrer auserwählten Gruppe ausgesehen haben könnte. «Als Schausteller vermitteln wir Kultur und Tradition», sagt Lagertha (48). Sie ist die Schwertkämpferin des Wikinger-Clans «Midgar Ulf Kjeden». Die Wikinger habe sie vor fünf Jahren ausgesucht, weil bei ihnen auch die Frauen kämpfen konnten, sagt sie.

Geschichts- und Mittelalterarchäologie-Student Julian Ronneberger, selber grosser Fan des Mittelalters, sieht das mit der Kulturvermittlung mit gemischten Gefühlen: «Die heutige Mittelalterszene ist stark von Hollywood beeinflusst.» Die Leute würden von Serien wie «Vikings» oder «Game of Thrones» auf die Mittelalterszene aufmerksam gemacht. «Aber das hat mit der akademischen Realität nahezu gar nichts mehr zu tun.» Es komme deshalb vor, dass die historische Korrektheit stark vernachlässigt werde, sagt Ronneberger. So würden den Besuchern teilweise Fehlinformationen vermittelt, die mit wenig Fachwissen nur sehr schwer zu erkennen seien. Natürlich sei Unterhaltung das Ziel solcher Veranstaltungen. «Doch aus historischer Sicht wäre es angebrachter, wenn sich der Markt ‹Fantasy-Markt› nennen würde und nicht Mittelaltermarkt.»

Die Umsetzung ist mit den Sicherheitsvorschriften fast unmöglich

Doch warum wollen Menschen im Jahr 2020 überhaupt zurück ins Mittelalter? Lagertha schätzt vor allem den Zusammenhalt innerhalb der Szene. «Wenn jemand ein Problem hat, sind innert kürzester Zeit zehn Clan-Mitglieder zur Stelle, um zu helfen. Das vermisse ich im schnelllebigen Alltag», sagt sie.

Doch dem Corona-Alltag entkommt man nur teilweise. Dieses Jahr gibt es am «Wums» zum Beispiel nur noch eine Musikgruppe, die anstatt auf der Bühne neu auf dem Gelände unterwegs ist. So sollen Menschenansammlungen vermieden werden. Auf das Schlachtfeld darf man nur mit Maske. Die Gassen sind breiter, es gibt nur Stehtische. Zwei kleine Unterstände bieten Schutz vor dem strömenden Regen, doch nur je 24 der maximal 1000 Besucher dürfen gleichzeitig ins Trockene. «Ich muss gestehen, die Organisation war mit so vielen Vorkehrungen fast unmöglich», sagt Jera.

Im Matsch wird getanzt, die kalten Finger am Glühmet gewärmt. Bereits während der Pest im Mittelalter haben die Leute aus Angst vor der Zukunft ausgiebig gefeiert, als gäbe es kein Morgen. Jera hofft, dass es für die Mittelalter-Szene der Schweiz eine Zukunft gibt. «Natürlich wollen wir die Vorschriften des BAG befolgen», sagt sie. «Doch sie müssen einfacher umzusetzen sein.» Das sei besonders für das nächste Jahr wichtig, wenn das Mittelalter überleben soll.

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