Was Bestseller über die Gesellschaft aussagen
Man ist, was man liest

Der deutsche Autor Jörg Magenau untersuchte die Bücher-Bestseller im deutschsprachigen Raum seit dem Zweiten Weltkrieg und wollte wissen, was sie über ihre Leser aussagen.
Publiziert: 12.02.2018 um 19:10 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 02:56 Uhr
1947: Wolfgang Borchert, «Draussen vor der Tür»: Das Zweite-Weltkriegs-Heimkehrer-Drama traf vor allem im zerstörten Deutschland den Nerv der Zeit und verkaufte sich rund 600 000-mal.
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Daniel Arnet

Vom französischen Staatsphilosophen Joseph Marie de Maistre (1753–1821) stammt der berühmte Satz: «Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.» Ein schlauer Schriftsteller formulierte später in Anlehnung daran: «Jedes Volk hat die Literatur, mit der man verdient.» Denn Worte allein machen nicht satt.

Bestsellerlisten sagen so gesehen einiges über ein Sprachgebiet aus – die Käufer ermöglichen den Ver­fassern dieser Bücher ein besseres Leben. Die Engländerin Joanne K. Rowling (52) hat sich mit dem Verkaufserfolg ihrer «Harry Potter»-Reihe von der armen, alleinerziehenden Mutter zur reichen Frau mit einem Vermögen von rund 840 Millionen Franken hochgeschrieben.

Der deutsche Literaturkritiker Jörg Magenau (56) hat diese und andere viel verkaufte Romane und Sachbücher seit 1945 untersucht und veröffentlicht demnächst seine Erkenntnisse unter dem Titel «Bestseller: Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten».

Bestseller zeigen, wovon derzeit die Rede ist

Wie viele andere hielt Magenau bereits als Kind einen Verkaufsschlager in Händen: «Räuber Hotzenplotz» von Otfried Preussler (†79). «Und als ich mit 18 in meiner ­Hermann-Hesse-Phase war, wusste ich gar nicht, dass es sich dabei um All-Time-Bestseller handelte», sagt Magenau. Später seien auch «Der Name der Rose», «Das Parfum» und «Der Vorleser» «nicht unbemerkt» an ihm vorbeigegangen.

Weshalb entscheiden wir uns für Bücher, die viele andere kaufen? Was sagt das über uns aus? Wer sich an Bestsellerlisten halte, suche entweder Orientierung, weil er keine eigenen Auswahlkriterien habe und davon ausgehe, dass sich die Masse nicht irren könne. Oder aber er wolle in Gesprächen mithalten. «Bestseller kauft man ja auch deshalb, um zu wissen, wovon derzeit die Rede ist», sagt Magenau. «Dobelli schon gelesen? Den neuen Murakami schon gekauft?»

Bienen, Bäume und das eigene Gedärme

Was heute der Schweizer Rolf Dobelli (51) mit seinen Einsichten ins irdische Leben ist, war in den 1960er-Jahren sein Landsmann Erich von Däniken (82) mit seinem Ausblick zu Ausserirdischen. Jedes Jahrzehnt, ja jedes Jahr hat seine Buchtypen, die den Nerv der Zeit treffen. «Sie sind ein Stimmungs­barometer. Und mehr noch: Indikatoren historischer Gemütsverfassungen», sagt Magenau. «Dass wir uns seit geraumer Zeit vor allem für Bienen und Bäume und das eigene Gedärme interessieren, ist ganz ­sicher kein Zufall.»

Jörg Magenau: «Dass wir uns seit geraumer Zeit vor allem für Bienen und Bäume und das eigene Gedärme interessieren, ist ganz ­sicher kein Zufall.»
Foto: Anna Weise

Erst «heisse» Themen bringen Sachbücher zum Kochen, davon ist Magenau überzeugt. Um das zu ­unterstreichen, zitiert er in seinem neuen Buch «Bestseller» die Cheflektorin eines grossen Sachbuchverlags: «Ein Bestseller ist ein Eintopf, in den sehr viele Zutaten gehören.» Nur: Das Rezept kennt keiner, und es arbeiten jeweils viele Köche mit – Verlagshäuser, Literatur­agenten, Buchhändler, Medien und Verfilmungs- sowie Vermarktungsfirmen. Die können den Brei manchmal gehörig verderben.

So bleibt mal der erwartete Erfolg eines hoch gehandelten Titels aus, mal stellt er sich an anderer, unvermuteter Stelle ein. Bei seiner Arbeit zu «Bestseller» erstaunte Magenau am meisten, dass das kulturell explosive 1968 kaum Spuren in den Bestsellerlisten hinterliess. Stattdessen las man damals massenweise den besagten weltfernen Sternengucker von Däniken. «Erstaunlich auch, dass die Zeit der ­anschliessenden Friedens- und Anti-AKW-Bewegung von einer heftigen Fantasy-Welle begleitet wurde», sagt der studierte Philosoph und Germanist. «Der Herr der Ringe» von J. R. R. Tolkien und Michael Endes «Momo» schwangen damals obenaus.

Schon Goethe wollte Millionen begeistern

Als ältester deutschsprachiger Bestseller gilt das in Basel gedruckte «Narrenschiff» (1494) des Strassburger Dichters Sebastian Brant (1458–1521). Erst gut drei Jahrhunderte später hatte Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) dank der ­«Leiden des jungen Werther» (1774) einen ähnlichen Verkaufshit. Mit fatalen Folgen: Viele unglücklich verliebte Leser gewandeten sich wie der Titelheld mit gelber Hose, blauem Frack und grauem Hut – und richteten sich wie Werther mit der Pistole.

Auch wenn solche Nachahmung nicht beabsichtigt war, auf die Massen hatte es Goethe allemal abgesehen. Gegenüber seinem Gesprächspartner Johann Peter Eckermann sagte der Dichterfürst später: «Wer aber nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben.» Der Begriff Bestseller setzte sich ­allerdings erst Jahrzehnte nach Goethes Tod zunächst im angelsächsischen Raum durch, und die erste Bestsellerliste druckte die US-amerikanische Branchenzeitschrift «The Bookman» 1895 ab.

Im deutschsprachigen Raum lancierte die Zeitschrift «Die literarische Welt» 1927 eine Bücherverkaufsliste. Die Top 3: Hermann Hesses «Steppenwolf», Alfred Neumanns «Der Teufel» und Gunnar Gunnarssons «Die Leute auf Borg». Das Vorhaben kam nicht gut an: Das sei eine «weitere Verengung und Verflachung des geistigen ­Lebens», frotzelte «Das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel». Bereits 1928 beendete «Die literarische Welt» den Abdruck wieder.

Erst zu Beginn der 1960er-Jahre erlebten die deutschsprachigen Bestsellerlisten in der «Zeit» und im «Spiegel» ein Revival. Seither hat sich vor allem die sogenannte «Spiegel»-Liste zu einem wichtigen Lenkungsinstrument des Kundeninteresses im Buchhandel entwickelt. «Der Aufkleber ‹Spiegel-Bestseller› auf dem Cover, kaum hat ein Buch Platz 49 erreicht, ist längst zu einem Werbefaktor geworden», sagt «Bestseller»-Autor Magenau. Die Bestsellerregale in den Buchhandlungen steuern die Aufmerksamkeit. «Kurz gesagt gilt die ­Regel: Erfolgreich sind die Bücher, die Erfolg haben.»

Ein «Spiegel»-Kleber, ein bekannter Autorenname und ein schmissiger Titel auf dem Umschlag – drei Faktoren, die den Verkauf ankurbeln, auch wenn es im Englischen heisst: «Don’t judge a book by its cover» – beurteile ein Buch nicht nach seinem Umschlag. Jörg Magenau weiss es nach seinen Forschungen besser: «Bei Büchern entscheidet wie bei der Liebe der erste Blick, also erst einmal die Oberfläche.» Dabei spielt Farbpsychologie eine Rolle: «Gerne sehen Bücher so aus wie ­Erfolge der Vorsaison.» So komme es zu farblichen Modewellen, zu blauen, weissen oder roten Buch-Jahren.

Leser lesen gerne von Lesern

Die Wiederholung von Bekanntem, das schon erfolgreich war, scheint auch inhaltlich zu funktionieren. Magenau hat festgestellt, dass in Bestsellern auffällig häufig Leser vorkommen – nicht nur in Bernhard Schlinks (73) «Vorleser», sondern etwa auch in «Sophies Welt» von Jostein Gaarder (65). «Es scheint so, dass wir besonders gerne von Lesern lesen und uns als Lesende in ihrer Lektüre spiegeln», sagt Magenau.

Und er warnt: «Es ist zwar gut, an Bekanntes anzuknüpfen, es ist aber schlecht, das allzu oft zu tun – das führt zu Überdruss, Ermüdung und dem Gefühl, da werde bloss noch nachgeahmt.»

Wie viel Kalkül steckt im Titel «Bestseller» seines eigenen Buches? Wird es durch dieses Etikett selber einer? «Wäre schön, wenns funktioniert», sagt Magenau, «aber Buchkäufer sind keine Pawlow’schen Hunde.»

Jörg Magenau, «Bestseller: Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten», Hoffmann und Campe, ab 20. Februar im Handel

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