Kaspar Schnetzler über seinen neuen Roman
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Autor und pensionierter Lehrer:Kaspar Schnetzler über seinen neuen Roman

Schriftsteller und Lehrer Kaspar Schnetzler
«Die nahmen sich vor, mich fertigzumachen»

Die Magazin-Journalisten Daniel Arnet (56) und Silvia Tschui (48) gingen im Gymnasium zum selben Deutschlehrer – und haben dort schreiben gelernt. Ein Gespräch der besonderen Art mit Kaspar Schnetzler (80) über Aufsätze, Schulschwänzerinnen und seinen neuen Roman.
Publiziert: 29.05.2022 um 15:30 Uhr
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Aktualisiert: 04.06.2022 um 08:51 Uhr
Kaspar Schnetzler beim Interview im Restaurant «Zum Grünen Glas» in Zürich, das in seinem neuen Roman «Die Beschliesserin» eine zentrale Rolle spielt.
Foto: Philippe Rossier
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Daniel Arnet und Silvia Tschui

Daniel Arnet: Silvia hat sich verspätet, beginnen wir trotzdem mit dem Interview.
Kaspar Schnetzler:
Sie ist schon damals ab und an nicht im Unterricht erschienen. Aber wenn sie dabei war, war sie immer sehr aktiv.

Als Deutschlehrer hast du uns beide sehr geprägt, und wir sind heute per Du mit dir. Beide gingen wir in unterschiedlichen Jahrgängen zu dir in den Unterricht und arbeiten nun zusammen beim SonntagsBlick Magazin.
Lustig. Habt ihr das sofort herausgefunden?

Nein, nach einer gewissen Zeit sprachen wir über unsere Zeit an der Zürcher Kantonsschule Enge – und da entdeckten wir die Gemeinsamkeit.
Es gibt ja noch etwa fünf weitere Schüler von mir, die später beim Blick arbeiteten. Auch beim «Tages-Anzeiger» gibt es welche, bei der «NZZ» war ich selber wohl der Einzige. Aber beim Fernsehen hat es auch noch ein paar Ex-Schüler.

Macht es dich stolz, dass junge Menschen wegen dir die Freude am Schreiben entdecken?
Stolz ist das falsche Wort, Stolz ist eine Todsünde. Aber es ist schön, wenn ihr bei mir die Sprache lieben lerntet.

Obwohl du uns weniger Grammatik und Orthografie beigebracht hast als die Liebe zur Literatur.
Ja, dazu habe ich ein Beispiel: Nach einer Lesung trank ich einmal ein Bier mit einem spanischstämmigen Ex-Schüler. Der sagte mir, Deutsch habe er bei mir nicht gelernt, aber fürs Leben habe er bei mir gelernt. Da erschrak ich ein wenig.

Weshalb?
Nun, ich dachte, dass ich als Lehrer versagt habe. Aber dann merkte ich: Eigentlich will ich den Schülerinnen und Schülern etwas fürs Leben mitgeben. Aber das sagte ich nie so, weil das arrogant klänge.

Was machte dieser Ex-Schüler aus seinem Leben?
Er ergriff den Beruf des Stewards bei der spanischen Fluggesellschaft. Und ich versprach ihm, dass er ein Kapitel in meinem neuen Buch bekomme.

In welchem Buch hast du ihn verewigt?
In «Das Gute»: Dort fliegt ein Protagonist nach Neuengland, und in diesem Flug ist der Ex-Schüler der Steward. Aber er reagierte nie darauf.

Vom «Fall Bruder» bis «Nach Berlin»

Am 29. Mai 1942 kommt Kaspar Schnetzler in Zürich zu Welt. Nach dem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte, das er mit einer Dissertation abschliesst, ist er von 1968 bis 2003 Gymnasiallehrer für Deutsch, die meiste Zeit an der Kantonsschule Enge in Zürich. Mit «Der Fall Bruder» veröffentlicht Schnetzler 1977 seinen ersten Roman, wofür er den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung bekommt. Daneben schreibt er grosse Reportagen, hauptsächlich für die Wochenendbeilage der «NZZ». Nach der Tätigkeit als Kantonsschullehrer widmet sich Schnetzler ausschliesslich der Schriftstellerei und veröffentlicht Romane wie «Die Gilde» (2002), den Bestseller «Das Gute» (2008) oder «Nach Berlin» (2012). Sein eben erschienener Roman heisst «Die Beschliesserin». Kaspar Schnetzler lebt in Zürich.

Schweizer Schriftsteller Kaspar Schnetzler (80).
Philippe Rossier

Am 29. Mai 1942 kommt Kaspar Schnetzler in Zürich zu Welt. Nach dem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte, das er mit einer Dissertation abschliesst, ist er von 1968 bis 2003 Gymnasiallehrer für Deutsch, die meiste Zeit an der Kantonsschule Enge in Zürich. Mit «Der Fall Bruder» veröffentlicht Schnetzler 1977 seinen ersten Roman, wofür er den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung bekommt. Daneben schreibt er grosse Reportagen, hauptsächlich für die Wochenendbeilage der «NZZ». Nach der Tätigkeit als Kantonsschullehrer widmet sich Schnetzler ausschliesslich der Schriftstellerei und veröffentlicht Romane wie «Die Gilde» (2002), den Bestseller «Das Gute» (2008) oder «Nach Berlin» (2012). Sein eben erschienener Roman heisst «Die Beschliesserin». Kaspar Schnetzler lebt in Zürich.

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Hast du dich damals, als du uns unterrichtetest, schon primär als Schriftsteller verstanden?
Nein, ich war Lehrer. Aber dann habe ich über die schöne Nebenbeschäftigung als Journalist viel geschrieben.

Du hast damals vor allem für die Wochenendbeilage der «NZZ» geschrieben.
Ja, ich war freier Mitarbeiter, konnte aber unglaubliche Reportagen machen: Ostpreussen, Schlesien, Berlin …

Warum hast du den Beruf des Deutschlehrers ergriffen?
Ich wollte. Im Gymnasium begann ich, die Lehrer zu beobachten. Das reizte mich, und ich wollte auch mal dort vorne stehen und den Klassen erzählen, wie es läuft. Ich wollte die Wahrheit erzählen. Deutsch ist neben Geschichte das Spannendste – ich wollte nie etwas anderes unterrichten.

Interessant. Du warst für mich zwar der Grund, weshalb ich später Germanistik studierte, aber zugleich warst du der Grund, weshalb ich nie Lehrer werden wollte.
(Lacht laut) Wieso denn?

Du hast mir leidgetan, weil ich später merkte, wie viel du gewusst hast und die Klasse das nicht entsprechend goutierte. Hat dich das latente Desinteresse nie gestört?
Das ist vielleicht meine pädagogische Veranlagung. Ich habe natürlich bemerkt, was ablief beziehungsweise nicht ablief.

Und Klassen missbrauchten die Deutschstunde häufig für Diskussionen, wenn sie Probleme mit anderen Lehrern hatten – du wurdest als Sozialarbeiter benutzt.
Ja, aber wenn mich etwas am Beruf gereizt hat, dann war es genau das. Aber zuweilen scheiterte auch ich.

Wo denn?
Ich musste eine Klasse übernehmen, in der vorne fleissige Mädchen sassen und hinten sechs Stück.

Buben?
Natürlich. Und die nahmen sich vor, mich fertigzumachen. Ich sah, wie die sich unfein, um nicht zu sagen bösartig benahmen.

Wie hast du reagiert?
Zunächst versuchte ich, sie mit Fragen in den Unterricht einzubeziehen. Aber natürlich hatten sie keine Ahnung: Dafür seien die Mädchen vorne zuständig. Dann gab ich ihnen zwei Wochen Bedenkzeit.

Mit welcher Konsequenz?
Wenn sie sich in zwei Wochen noch gleich benehmen, dann verbiete ich ihnen, in die Klasse zu kommen – ich gebe ihnen keinen Unterricht mehr.

Wirkte das?
Das fanden sie zunächst seltsam, aber ich sagte, ich meine das ernst und gehe nachher zum Rektor. Die anderen Schülerinnen und Schüler waren froh, dass die den Unterricht nicht mehr störten.

Wann war das?
Das muss in den 1970er-Jahren gewesen sein. Aber grundsätzlich hatte ich mit der Schülerschaft keine Probleme, sondern mit anderen Lehrern oder dem Rektorat.

Inwiefern?
Indem ich ihnen stets etwas auf die Füsse getreten bin. Einmal habe ich während eines Vortrags den damaligen Rektor der Kantonsschule Enge verärgert.

«Sie legte Wert auf positive Inhalte im Unterricht», heisst es über eine Rektorin in deinem neuen Roman «Die Beschliesserin». «Sie verlangte von den Deutschlehrern eine aufbauende Lektüre.» Ist da einer deiner eigenen Rektoren verewigt?
Nicht unbedingt. Es handelt sich dabei um Hedwig Strehler, die als erste Rektorin ab 1946 die Zürcher Töchterschule leitete. Meiner Meinung nach war die eine Meinungsterroristin.

Wie deine Rektoren?
Parallelen gibt es – zum Beispiel, dass es verpönt war, im Unterricht politisch zu sein. Ich war es trotzdem, das hat die Beschäftigung mit Literatur so an sich.

Wir hatten den Eindruck, du seiest links gewesen.
Eigentlich nicht, ich bin ja bürgerlich aufgewachsen und verstehe mich auch als bürgerlich.

Du hast 35 Jahre Deutsch unterrichtet. Wie hat sich die Schule in dieser Zeit verändert?
Es waren einfach unterschiedliche Zeiten. 1968 und 1980 waren geprägt von den Jugendunruhen.

Wie haben sich die Schülerinnen und Schüler gewandelt?
Früher waren sie aktiver, haben manchmal Aktionen in den Zimmern veranstaltet, aber sie haben sich stets am Unterricht beteiligt. Mir waren solche Klassen lieber. Später wurden sie immer passiver.

Ah, da kommt Silvia. (Silvia Tschui fährt mit ihrem Lastenfahrrad vor und verwirft entschuldigend die Hände.)

Silvia Tschui: Einige Dinge ändern sich nie – zum Beispiel mein Zeitmanagement. Ich schäme mich dreissig Jahre später noch, dass ich immer zu spät zu dir gekommen bin. Und jetzt schon wieder! Entschuldigung!
(Lacht) Ich bins ja gewohnt.

Ich war ja nicht nur zu spät, ich habe auch ständig geschwänzt – selbst bei dir. Hat dich das persönlich geärgert?
Nicht wirklich. Aber wenns mir zu bunt wurde mit der Schwänzerei, habe ich dich jeweils auf den Pausenplatz zum Wischen geschickt – weisch no?

Lebhaft. Und ich war amigs sehr wohl beleidigt. Obwohl der Fehler bei mir lag. Sag mal, hast du damals gemerkt, dass ich oft für zwei Klassengschpänli, die kaum einen geraden Satz hinkriegten, die Aufsätze geschrieben habe?
Was? Nei! Ehrlich?

Moll, du hast immer drei Aufsatzthemen vorgegeben, und ich habe zu jedem Thema je einen geschrieben und die rechts und links verteilt, damit die anderen sie noch in ihrer eigenen Schrift abschreiben konnten. Am Schluss kam meiner dran.
Hatten sie denn wenigstens gleich gute Noten wie du?

Sie lagen meist so eine halbe Note bis eine Note unter mir. Das lag aber wohl daran, dass ich das Thema, das mich am meisten interessiert hat, für mich genommen habe. Hast du Aufsätze jeweils gerne korrigiert?
Puuh, nein. Auf zwanzig Aufsätze pro Klasse kommen in der Regel drei akzeptable und ein guter bis sehr guter. Meistens war das eine richtige Pein.

Ich hab jedenfalls bei dir gemerkt, dass ich schreiben kann. Danke dafür, das hat mich durch die Matur «gelupft», und ich verdiene heute noch mein Geld mit Schreiben. Ohne dich wär ich vielleicht kreuzunglückliche Buchhalterin geworden.
Ach was! Du schreibst ja wie ich auch Bücher und schöpfst dabei aus deinem eigenen Leben.

Hast du jeweils auch Angst, wenn ein neues Buch von dir rauskommt?
Nein, wieso?

Weil ich dann halb tot bin vor Angst: Gibts Reaktionen, gibts gute Reaktionen oder findet das komplette Nichtbeachtung und sinkt wie ein Stein?
Ich musste mich daran gewöhnen, in eine Züri-Ecke gedrängt zu werden, nur weil einige meiner Bücher – längst nicht alle – in Zürich spielen. Für den Literaturbetrieb ist man dann sofort als eine Art Heimatautor abgestempelt. Ich will nicht als «Chronist von Zürich» bekannt sein, sondern als Kaspar Schnetzler. Das nervt und enttäuscht, aber ich habe halt einfach lernen müssen, damit umzugehen.

Arnet: Auch dein neuster Roman «Die Beschliesserin» spielt in Zürich. Und die Hauptfigur ist eine Journalistin namens Lore …
Es ist eine Hommage an Laure Wyss, eine bemerkenswerte Frau, die unter anderem das «Magazin» des «Tages-Anzeigers» mitbegründet hat und eine Wegbereiterin für Frauen ab den 1950er-Jahren war. Sie war in dieser sehr konservativen Zeit alleinerziehende Mutter und erst noch beruflich ausserordentlich erfolgreich – eine unglaubliche Leistung.

Tschui: Kanntest du sie persönlich?
Nicht gut, man hat sich auf Anlässen begrüsst und ein paar Worte gewechselt. Aber sie hat mich einmal angerufen, als ich als junger Journalist eine Reportage zur Zürcher Altstadt in der «NZZ» publiziert habe. Erst hat mir Niklaus Meienberg aus Berlin gratuliert, dann eben Laure Wyss. Das war der doppelte journalistische Ritterschlag – an einem Tag!

Im Haus der Ritterfamilien Manesse und von Meiss recherchiert deine Lore zu einem alten Todesfall …
Ein real stattgefundener, ungeklärter Todesfall im real existierenden Steinhaus in der Zürcher Altstadt, den meine Romanfigur Lore aufdeckt. Inspiriert zum Thema hat mich aber noch etwas anderes.

Was denn?
Eine eventuell, man weiss es nicht so genau, schlüpfrige Anekdote über die alteingesessene Zürcher Familie von Meiss, die mit dem berühmten Schriftsteller Gottfried Keller zu tun hat. Soll ich?

Unbedingt!
Die Familie von Meiss, die auch im Roman vorkommt, ist seit 800 Jahren in Zürich historisch belegt und war und ist eine der reichsten und wohlhabendsten Familien der Region – damals so etwas wie Könige von Zürich.

Und was hat das mit Gottfried Keller zu tun?
Moment, ich komme dazu: Gottfried Keller sollte nach Wunsch seines Vaters einen anderen Vornamen tragen. Seine Mutter hat aber auf Gottfried bestanden und ihren Mann dazu genötigt, Gottfried von Meiss zu schreiben und zu fragen, ob sie ihren Sohn nach ihm benennen dürfe.

Wirklich?
Ja, der arme Kerl hat das tatsächlich getan. Wenn man jetzt noch weiss, dass der mächtige Gottfried von Meiss ein stadtbekannter Schürzenjäger war, fragt man sich natürlich, weshalb es Gottfried Kellers Mutter derart wichtig war, ihren Sohn Gottfried zu nennen …

Pikant! Auch wenn du die Schubladisierung nicht magst, beweist du dich hiermit als «Chronist von Zürich». Gibts noch mehr aus dem historischen Nähkästchen?
Natürlich. Ich lebe in der Wohnung, in dessen Stube sich der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi einst regelmässig heimlich mit der Bürgerstochter Anna Schulthess traf, die er später gegen den Willen ihrer Eltern heiratete. An einem besser passenden Ort könnte ein alter Lehrer seinen Lebensabend nicht verbringen.

Arnet: Du wirst heute 80 Jahre alt – herzliche Gratulation!
Danke sehr!

Tschui: Verfolgen dich die alten Geschichten auf Schritt und Tritt, wenn du durch die Altstadt gehst?
Es geht. Nur wenn ich über etwas schreibe, dann tauche ich schon sehr ein.

Arnet: Schreibst du bereits an etwas Neuem?
Ja. Aber ich will noch nicht sagen, worum es geht.

Ein Zürich-Thema?
Nein, gopf! Ein Schnetzler-Thema!

Kaspar Schnetzler, «Die Beschliesserin», Bilger

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