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Andri Ragettli:«Selbstgespräche sind wichtig»

Freeski-Star Andri Ragettli lässt tief blicken
«Selbstgespräche sind wichtig»

Freeskier Andri Ragettli (22) gewann jüngst einen der wichtigsten Wettbewerbe seiner Sportart. Noch bekannter ist der Bündner für seine Videos, die sich Millionen anschauen. Ein Gespräch über Goldmedaillen, Selbstgespräche und den Parkettboden seiner Mutter.
Publiziert: 07.03.2021 um 11:12 Uhr
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Aktualisiert: 25.07.2023 um 09:19 Uhr
Jonas Dreyfus

Herr Ragettli, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie mit Ski über eine Schanze gleichzeitige drei Salti und fünfeinhalb Schrauben machen wie beim Sprung Triple Cork 1980.

Andri Ragettli: Erstaunlich viel – auch wenn der Sprung nur zwei Sekunden dauert. Ich schalte in eine Art Zeitlupenmodus.

Ein tranceähnlicher Zustand?
Nein, das wäre nicht gut. Mein Verstand muss absolut klar sein. Nach einer Schanze fliege ich rund fünf Meter hoch durch die Luft und lande erst nach circa 22 Metern. Ich muss mir überlegen, wie viel Zeit ich bis zur Landung habe, und bei Bedarf die Rotation beschleunigen, indem ich den Körper zu einem Päckli zusammenziehe.

Eine Gold­medaille von den X-Games fehlte ihm noch. Im ­Januar ­gewann Ragettli eine in der Disziplin Big Air.
Foto: Zvg
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Den Triple Cork 1980 sprangen Sie bei den prestigeträchtigen X-Games zum ersten Mal vor Publikum und gewannen dafür eine Goldmedaille. Wie gehen Sie mit Angst um?
Ich bin nicht furchtlos, auch wenn das so wirken mag. An einen Sprung wie den Triple Cork 1980 habe ich mich jahrelang herangetastet, habe ihn schon tausendmal auf dem Trampolin geübt und mindestens dreissig Mal auf einer Luftkissen-Landebahn gestanden.

Irgendwann kommt der unausweichliche Moment, in dem Sie ihn das erste Mal auf hartem Schnee ausführen – das kann eine Angelegenheit von Leben und Tod sein. Wie fühlen Sie sich, kurz bevor Sie lossausen?
Ich werde nervös, und mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Dann beginne ich mir Mut zu machen. Ich weiss in diesem Moment ja ganz genau, dass ich es kann. Wenn ich nur hoffen würde, dass es klappt, käme es nicht gut. Somit ist es für mich keine Angelegenheit von Leben und Tod.

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In den sozialen Medien sieht Ihnen ein Millionenpublikum zu, wie Sie für Videos von Hausdächern in den Schnee springen und Hindernisläufe schaffen, die eigentlich nicht zu schaffen sind. Der Fussballklub Real Madrid hat ein Filmteam zu Ihnen nach Flims geschickt, um Sie zu porträtieren. Und als Sie im Tessin aus 24 Metern Höhe in einen Bergbach sprangen, gratulierte Ihnen Novak Djokovic. Wie gross ist der Druck, immer extremere Stunts machen zu müssen?
Natürlich versuche ich bei den Stunts immer, einen Schritt aus meiner Komfortzone herauszutreten. Aber wirklich nur einen Schritt. Ich plane alles minutiös – die Zuschauer bekommen nur das Endprodukt zu sehen. Bis ich einen Parcours schaffe, brauche ich manchmal mehr als 200 Versuche. Und als ich von der Klippe sprang, tauchte mein Bruder davor im Becken, um die Tiefe zu messen.

Bevor Sie einen Sprung machen, hört man Sie immer «Let’s go!» schreien. Komischerweise sagen Sie es nochmals, nachdem Sie es geschafft haben. Was hat es damit auf sich?
Wenn ich losfahre, sage ich «Let’s go! Dä hesch!» Das ist, wie wenn Roger Federer zu sich «Chumm jetzt!» sagt. Das zweite «Let’s go!» ist dann mehr ein «Weiter so!», das ich an mich richte. Selbstgespräche sind wichtig.

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie mehr wollen als ein Skifahrer, der einfach die Piste herunterfährt?
Das war, als ich zum ersten Mal mit Freestyle-Ski über eine kleine Schanze fuhr. Der kurze Moment in der Luft löste ein Gefühl von Freiheit in mir aus. Ein Gefühl, dem ich bis heute nachjage.

Als Sie ein Jahr alt waren, erlitt Ihre Familie einen Schicksalsschlag: Ihr Vater, der ein Metallbaugeschäft führte, kam bei einem Arbeitsunfall ums Leben. Welche Beziehung hatte er zum Wintersport?
Er ist in Flims aufgewachsen und konnte sehr gut Ski fahren. Meine Mutter, die aus dem Unterland stammt, und meine beiden älteren Geschwister haben es von ihm gelernt. Mir musste es dann meine Mutter beibringen, weil er ja nicht mehr da war. Dass wir heute alle leidenschaftliche Skifahrer sind, hat sicher damit zu tun, dass es eine Art ist, ihn in uns weiterleben zu lassen.

Die Ragettlis sind ein Familienbetrieb, Ihre Mutter ist für die Buchhaltung, Ihre Schwester für PR und Ihr Bruder für Filmaufnahmen und Fotos zuständig. Es hängt also vieles davon ab, dass Sie sich nicht verletzen. Ein Klumpenrisiko?
So weit würde ich nicht gehen. Meine Geschwister arbeiten nur nebenher für mich. Ausserdem gehören Verletzungen zu einer Spitzensport-Karriere. Wichtig ist es, sie gestärkt hinter sich zu lassen. Trotzdem schaltet meine Mutter das Handy und den Fernseher aus, wenn ich einen Wettkampf habe. Ich finde das okay – viele Eltern sind in solchen Momenten nervös.

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Nervös oder ängstlich?
Meine Mama weiss, dass ich überlegt handle und sie keine Angst haben muss. Wenn das nicht der Fall wäre, hätte sie kein sehr sorgenfreies Leben. Als ich während des Lockdowns einen Parcours im Haus filmte, in dem ich mit meiner Mutter lebe, ging sie in den Garten, um zu jäten. Ihre einzige Bedingung war: Keine Kratzer ins Parkett machen!

In der Sportmittelschule Engelberg, an der Sie das Gymnasium absolvierten, galten Sie offenbar als Streber. Das passt so gar nicht zum Klischee des wilden, partysüchtigen Freeskiers.
Dieses Image ist überholt. Die Sportart ist zwar noch jung, wird aber hochprofessionell ausgeübt. Dazu beigetragen hat der Umstand, dass Anfang der 90er-Jahre immer mehr Freeski-Disziplinen olympisch wurden. Freeskier machen wenig Party. Es sind aber nicht alle so krass zurückhaltend wie ich.

Wann haben Sie das letzte Mal Alkohol konsumiert?
An meiner Maturafeier vor zweieinhalb Jahren habe ich mir das erlaubt. Aber nicht ohne davor lange hin und her zu überlegen.

Sie ernähren sich vegetarisch, in Ihren Videos zeigen Sie Ihren Körper, der nur aus Muskulatur zu bestehen scheint. Ist das ähnlich wie bei den Schanzenspringern: dass Sie möglichst leicht sein müssen?
Das Körpergewicht spielt bei Freeskiern keine so grosse Rolle. Was hingegen eher kontraproduktiv ist, sind breite Schultern und viel Bizeps. Sie führen dazu, dass die Beine bei der Landung viel Gewicht halten müssen. Starke Beine und eine gute Rumpfmuskulatur sind das Wichtigste.

Was kommt bei Ihnen auf den Teller?
Viel Pasta und Reis und am Morgen Porridge. Ich bin mein eigener Chef, wenn es ums Essen geht. Ich weiss ja, dass meine Leistung nicht die beste sein wird, wenn ich den ganzen Tag Pommes-Chips in mich reinstopfe.

Was machen Sie, um abzuschalten?
Ich lese gerne. Viel Selbsthilfeliteratur über mentales Training. Oder Biografien von Sportlern – ich möchte wissen, wie meine Idole es gemacht haben.

Keine Romane?
Kürzlich habe ich einen über einen Samurai gelesen. Das war inspirierend für mich als Sportler.

Gibt es irgendetwas, das Sie nicht für Ihre Sportkarriere tun?
Ich mache eigentlich nichts rein zum Plausch. Ich will in allem, was ich mache, besser werden, seit neustem zum Beispiel im Schachspielen. Aber klar macht es mir auch grossen Spass, ich bin ja keine Maschine!

Wie gesellig sind Sie?
Spitzensportler zu sein ist eine einsame Sache – das gilt nicht nur für mich. Aber ich kann mich nicht beklagen, denn ich bin gerne allein. Das ist eine meiner Stärken.

Was ist Ihre Schwäche?
Ich bin ein Mensch, der sehr viel plant. Wenn etwas Unvorhergesehenes diese Pläne durchkreuzt, fällt es mir nicht immer leicht, mich anzupassen. Dank Corona bin ich darin aber viel besser geworden. An den X-Games in Aspen wurden wir zum Beispiel kurz vor dem Wettkampf noch einmal getestet. So etwas stört die Routine, aber ich musste lernen, damit klarzukommen.

Wie vorsichtig sind Sie bezüglich Corona?
Sehr vorsichtig! Vor den X-Games habe ich nicht einmal mehr meine Schwester gesehen, nur noch meinen Bruder, der sich ständig testen liess, und meine Mutter. Wir haben selbst in der Wohnung Abstand gehalten und uns zum Abschied nicht umarmt. Wenn jemand von uns kochte, trug er eine Maske.

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Sie sind fast bekannter für Ihre Stunts, die nichts mit Skifahren zu tun haben, als für Ihre Erfolge als Profisportler. Wie sehr stresst Sie das?
Für mich ist das kein Problem. Die Filme, die ich für Social Media aufnehme, sorgen ja auch dafür, dass ich als Sportler bekannter werde, und somit attraktiver für Sponsoren. Ich bin überzeugt davon, dass meine Stunts indirekt auch das Freeskiing bekannter machen in der Schweiz, was mir fast am wichtigsten ist. Im Gegensatz zu den USA ist es bei uns immer noch eine Randsportart.

Warum sind die Amerikaner so angetan davon?
Amerikaner lieben allgemein Extremsportarten. Snowboarden und Skateboarden gehören auch dazu. Das Big-Air-Finale der X-Games läuft zur besten Sendezeit auf ESPN, einem der erfolgreichsten Sender des Landes. Das mag jetzt ein bisschen fies klingen – aber was im Alpin-Ski passiert, interessiert in den USA niemanden gross.

Sie können gut Englisch. Wie wichtig ist das für Ihre Karriere?
Um eine internationale Fanbase aufzubauen, muss man sich in dieser Sprache verständigen können. Es gibt ein, zwei Japaner bei uns, die kein Wort Englisch können. Das wird dann schwierig bei einem Sieger-Interview.

Was sagen Ihre Trainer eigentlich über Ihre waghalsigen Aktivitäten neben dem Sport?
Sie wissen, dass ich vorsichtig bin. Ich bin der, der am wenigsten will, dass ich mich verletze. Freeskier sind nun einmal polysportiv orientiert. Viele haben Klippenspringen als Hobby. Es ist aber schon nicht gerade so, dass mir meine Trainer für einen Sprung aus 24 Metern Höhe gratulieren.

Ragettli, die Rakete

Andri Ragettli (22) gehört zu den besten Freeskiern der Welt und gewann schon viermal den Weltcup in seinen Disziplinen. Er tritt im Slopestyle an – eine Art Hindernislauf auf Schnee. In der Disziplin Big Air – hier gehts über eine Schanze – gewann er Ende Januar an den X-Games in Aspen, Colorado, die Goldmedaille. Daneben ist der 22-jährige Bündner aus Flims ein Star in den sozialen Medien, wo er Videos von waghalsigen Aktionen postet. Dazu gehört auch mal ein halbstündiges Eisbad im zugefrorenen Caumasee.

Andri Ragettli (22) gehört zu den besten Freeskiern der Welt und gewann schon viermal den Weltcup in seinen Disziplinen. Er tritt im Slopestyle an – eine Art Hindernislauf auf Schnee. In der Disziplin Big Air – hier gehts über eine Schanze – gewann er Ende Januar an den X-Games in Aspen, Colorado, die Goldmedaille. Daneben ist der 22-jährige Bündner aus Flims ein Star in den sozialen Medien, wo er Videos von waghalsigen Aktionen postet. Dazu gehört auch mal ein halbstündiges Eisbad im zugefrorenen Caumasee.

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