«Er wollte nie ein Schweizer Autor sein»
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Gottfried-Keller-Spezialistin:«Er mochte den Ruhm nicht»

Der Nationalschriftsteller ist vor 200 Jahren auf die Welt gekommen
Ein Spaziergang durch Gottfried Kellers Zürich

Vor 200 Jahren ist der Schweizer Schriftsteller ­
Gottfried Keller auf die Welt gekommen – und er ist unsterblich. Eine aktuelle Besichtigung 
seiner Zürcher Lebensstationen.
Publiziert: 15.06.2019 um 15:13 Uhr
|
Aktualisiert: 17.06.2019 um 14:03 Uhr
Wohnhaus im Haus «Zur Sichel» am Rindermarkt 9. Ursula Amrein sagt: «In diesem Haus verbringt Gottfried Keller den grössten Teil seiner Kindheit und Jugend, bis er 1840 nach Deutschland geht – zuerst nach München, später nach Heidelberg und Berlin. 1852 verkauft die Mutter das Haus, um die Schulden des Sohnes tilgen zu können, denn in Berlin gerät Gottfried Keller in finanzielle Schwierigkeiten. Aus Scham verstummt er und lässt sich bei der Mutter über Jahre nicht hören.»
Foto: Thomas Meier
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Daniel Arnet

Das Haus «Zum goldenen Winkel» im Zürcher Neumarkt. Auf den Klingelschildern stehen «Whisky-Shop» und der Name eines Dancings. Das tönt nach Lebensfreude und Feierlust. Dabei ist das, was hier seinen ­Anfang nahm, längst tot.

«In diesem Hause wurde geboren Gottfried Keller den 19. Juli 1819», steht in holprigem Deutsch auf einer grossen Gedenktafel an der Fassade. Genau 200 Jahre ists her, doch es scheint, als wäre der spätere Schriftsteller und Politiker nie gestorben.

Denn bevor wir läuten, öffnet sich die Tür, und ein Mann mit­ Violine tritt heraus – fast so, als wärs der schwarze Geiger aus Kellers ­berühmter Novelle «Romeo und ­Julia auf dem Dorfe». «Wollt ihr mich fotografieren?», fragt er keck und tänzelt ein bisschen vor der ­Kamera herum. Nein, denn wir ­folgen mit Ursula Amrein, Gottfried-Keller-Kennerin und Mitherausgeberin seiner Gesamtausgabe, den Spuren des Dichters.

«Die grünen Gärtchen schienen mir kleine Paradiese»

Auch wenn bei keiner von Kellers vielen Zürcher Lebensstationen ein Museum entstanden ist, die Häuser sprechen Bände, sind prall gefüllt mit Geschichten. Geschichten, die der Schriftsteller in Büchern wie dem Novellenzyklus «Die Leute von Seldwyla» (1856/1874) und seinem Roman «Der grüne Heinrich» (1854/1879) festhielt.

«Die Fenster unserer Wohnstube gingen auf eine Menge kleiner Höfe hinaus, wie sie oft von ­einem Häuserviertel umschlossen werden und ein verborgenes behagliches Gesumme enthalten, welches man auf der Strasse nicht ahnt», steht in der zweiten Fassung des «Grünen Heinrich» von 1879.

Zum Lesen und zum Feiern

Gottfried Keller Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, herausgegeben von Ursula Amrein, J.-B.-Metzler-Verlag

Das grosse Lesebuch:Herausgegeben von Thomas Hürlimann, S.-Fischer-Verlag

Keller zum Vergnügen: Herausgegeben von Ursula Amrein und Michael Andermatt, Reclam-Verlag

Lydias Fest zu Kellers Geburtstag: Dîner Littéraire im Belvoir-Park, Zürich, 21. Juni, 18 Uhr. Info: zuerich.com/de/
besuchen/veranstaltungen/lydias-fest

Streifzug durch fremde Gärten: Kunstparcours durch Gottfried Kellers Altstadt, Stüssihofstatt, Zürich, 8. und
9. August, 18.15 Uhr. Info: dergruenehenry.ch

Alte Weisen, neu entdeckt: Ein Keller-Liederabend im Zunfthaus zur Waag, Zürich, 13. Oktober, 17 Uhr. Info: spurenderzukunft.ch/anlaesse

Gottfried Keller Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, herausgegeben von Ursula Amrein, J.-B.-Metzler-Verlag

Das grosse Lesebuch:Herausgegeben von Thomas Hürlimann, S.-Fischer-Verlag

Keller zum Vergnügen: Herausgegeben von Ursula Amrein und Michael Andermatt, Reclam-Verlag

Lydias Fest zu Kellers Geburtstag: Dîner Littéraire im Belvoir-Park, Zürich, 21. Juni, 18 Uhr. Info: zuerich.com/de/
besuchen/veranstaltungen/lydias-fest

Streifzug durch fremde Gärten: Kunstparcours durch Gottfried Kellers Altstadt, Stüssihofstatt, Zürich, 8. und
9. August, 18.15 Uhr. Info: dergruenehenry.ch

Alte Weisen, neu entdeckt: Ein Keller-Liederabend im Zunfthaus zur Waag, Zürich, 13. Oktober, 17 Uhr. Info: spurenderzukunft.ch/anlaesse

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Tatsächlich: Wer in den Hinterhof am Rindermarkt 9 blickt, wo Gottfried «Göpf» Keller in den Jahren 1821 bis 1840 aufwuchs, erlebt dieses Idyll live: «Die grünen Gärtchen (…) schienen mir kleine Paradiese zu sein, wenn die Nachmittags­­sonne sie beleuchtete und die ­weisse Wäsche darin sanft flatterte.»

«Wenn Sie dort in die Ferne ­blicken, sehen Sie einen goldenen Hahn», sagt Literaturprofessorin Amrein und zeigt aus dem obersten Stockwerk am Rindermarkt über die Altstadtdächer Richtung ­Predigerkirche. Jenen goldenen Wet­terhahn auf dem Spitzturm, den Keller einst in der Abend­sonne glänzend als Zeichen Gottes wahrnahm – auch das literarisch verewigt im Opus magnum «Der grüne Heinrich».

Wer diesen dicken Roman liest, erfährt viel über Kellers Leben, denn in der Hauptfigur spiegelt er sich selber: Schulverweis wegen eines Aufstands gegen Lehrer, ohne Abschluss der Wunsch, Künstler zu werden, Lehrjahre als Landschaftsmaler in München, mittellose Rückkehr nach Zürich.

Keller auf Banknote und Weinetikette

Ein Brummbär soll er gewesen sein, der vollbärtige Keller, ein eher klein gewachsener Raubauz von 1,62 Meter Körpergrösse. Liebeskummer und Geldsorgen ertränkte er gern im Alkohol und konnte im Rausch schon mal handgreiflich werden. Passend widmete man ihm Mitte des 20. Jahrhunderts mit der 10-Franken-Note nur die kleinste und verkauft bis heute grosse ­Zürcher Weine mit seiner Unterschrift auf der Etikette.

«Staatsschreiber» heisst sowohl der süffige Blauburgunder wie der edle Cuvée blanc. Staatsschreiber, weil der erfolglose Maler und mittellose Dichter Keller 1861 überraschend dieses hohe Amt in der kantonalzürcherischen Verwaltung unter Regierungspräsident Alfred Escher (1819–1882) bekam. «Als Erziehungsdirektor hatte Escher schon zuvor Keller über Jahre finanziell unterstützt», sagt Amrein.

Keller und Escher, beide 1819 geboren, nur einen Steinwurf voneinander entfernt: «Göpf» in der nördlichen Altstadt, Alfred ennet des Hirschengrabens. Da der Sohn eines Handwerkers, der an ­einer Lungenkrankheit stirbt, als Gottfried fünfjährig ist, dort der Spross einer einflussreichen Zürcher ­Familie, die einmal mit einem ­Konkurs fast die ganze Stadt Zürich in den finanziellen Abgrund riss.

Escher gilt später als Wegbereiter der modernen Schweiz – mit der Schaffung des Eidgenössischen Polytechnikums 1855 (heute ETH), der Gründung der Schweizerischen Kreditanstalt 1856 (heute Credit Suisse) und nicht zuletzt mit dem Bau des Bahntunnels durch den Gotthard (Eröffnung 1882).

Und Keller? Er wird unsterblich mit mehrfach vertonten ­Gedichten wie «Abendlied» («Augen, meine lieben Fens­terlein»), «Winternacht» («Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt») oder «An das ­Vaterland» («O mein Heimatland! O mein Vaterland!»). Er wird als «Shakespeare der Novelle» gefeiert, mit jener namens «Kleider machen Leute» (1874) gar sprichwörtlich.

Noch im Jahr vor seiner Ernennung zum Staatsschreiber entwirft Keller im «Bund» das Bild einer Schweiz als «eine einzige ungeheure Fabrikstadt» und schreibt so als Wortführer der Demokratischen Bewegung gegen das wirtschafts­liberale «System Escher» an: «Die Söhne der Matadoren jassen um halbe Millionen, die Kinder des ­gesamtes Volkes müssen täglich 14 Stunden arbeiten.» Das klingt beinahe wie Kapitalismus-Kritik von Karl Marx (1818–1883).

Mit Kellers «Zorngedicht» gegen Hitler

Doch Keller findet gefallen an der Amtsstelle, arbeitet bis 1876 als Staatsschreiber im Rathaus und bewohnt in dieser Zeit die stattliche Amtswohnung in der Staatskanzlei oben an der Kirchgasse. Geld und Geist gehen Hand in Hand. Manche sagten damals, das Geld habe den Geist gekauft, Escher habe Kellers Kritik mit dieser Ernennung mundtot gemacht.

Durch das Amt zu Geld gekommen, wagt Keller erneut die Existenz als freier Schriftsteller – und beginnt sogleich wieder mit seiner ätzenden Kritik. Dieses Mal richtet sie sich allerdings gegen Eschers Gegner. Im «Zorngedicht» «Die ­ öffentlichen Verleumder» (1878) verarbeitet er seine Erfahrungen als Staatsschreiber und dichtet jetzt gegen den Demokraten Friedrich Locher (1820–1911): «Ein Unge­ziefer ruht / In Staub und trocknem Schlamme / Verborgen, wie die Flamme / In leichter Asche tut.»

Das Gedicht macht später in den Reihen des deutschen Widerstands gegen Adolf Hitler die Runde: Erika Mann rezitiert es 1934 in ihrem Zürcher Exil-Kabarett «Pfeffermühle», Hans Scholl von der Münchner Widerstandsgruppe «Weisse Rose» liest es am Geburtstag seiner Schwester Sophie vor, und der Kunstmaler Bernhard Huys muss 1943 für zwei Jahre ins Zuchthaus. Tatbestand: Besitz einer Abschrift von Kellers «Die öffentlichen Verleumder».

Keller zieht nach der Quittierung des Staatsdienstes aus der Amtswohnung mit seiner Schwester ins Enge-Quartier – in unmittelbarer Nähe zur Villa Belvoir von Alfred Escher. «Die freundschaftliche ­Beziehung zwischen Keller und Escher setzte erst ein, nachdem Keller als Staatsschreiber zurückgetreten war», sagt Amrein. Der Junggeselle Keller verkehrt im ­Belvoir als Gesprächspartner Eschers und als väterlicher Freund von dessen einziger Tochter Lydia.

Sie verdankt es ihm in seinem Todesjahr 1890 mit der Gründung einer Bundes-Stiftung auf seinen Namen, die sich dem Erhalt und der Förderung bildender Kunst in der Schweiz widmet; eine feine Reminiszenz an die künstlerischen Anfänge des Schriftstellers.

Die Gottfried-Keller-Stiftung umfasst heute mehr als 6500 Werke in mehr als hundert Schweizer Museen, darunter das «Porträt des Schriftstellers Gottfried Keller» (1886) und das «Bildnis von Lydia Welti-Escher» (1886) von Karl Stauffer-Bern (1857–1891) aus dem Kunsthaus Zürich – lebensecht, wie wenn sie sich im Belvoir-Park gegenübersitzen würden, wo die Gemälde auch entstanden.

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