Boom wegen Corona-Pandemie
Hörbücher beschäftigen Kinder und entspannen Erwachsene

Das 19. Jahrhundert stand im Zeichen der Schrift, das 20. lief in Bildern ab, das 21. spricht via Alexa & Co. zu uns. Und nun verstärkt die Pandemie die Lust auf Hörbücher, frei nach dem Motto: Wer nicht lesen will, muss hören.
Publiziert: 21.03.2021 um 17:31 Uhr
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Aktualisiert: 22.03.2021 um 11:04 Uhr
Beim Schweizer Buchhändler Orell Füssli ist während des Lockdowns die Nachfrage nach Hörbüchern stark gestiegen.
Foto: PIUS KOLLER
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Daniel Arnet

Alles bleibt anders: Die Welt ist seit über einem Jahr im Ausnahmezustand. «Die Corona-Pandemie hat jahrelang gelernte Tagesabläufe teils massiv verändert», sagt Oliver Daniel, Deutschlandchef des digitalen Hörbuchanbieters Audible und in seiner Funktion auch zuständig für die Schweiz. «Neue Gewohnheiten etablieren sich, ergänzende Nutzungsmuster kommen hinzu.» Und davon profitiert Audible.

Hörbücher sind nämlich Krisengewinner. Das bestätigt Robert Wildgruber, Verlagsleiter von Der Hörverlag/Randomhouse Audio/cbj Audio, einem der grössten Anbieter im deutschsprachigen Raum. «In der Tat ist das Interesse am Hören von Lesungen, Hörspielen oder Podcasts schon während des ersten Lockdowns noch einmal deutlich gewachsen», sagt Wildgruber.

Und mit Fokus auf die Schweiz sagt Alfredo Schilirò von Orell Füssli, dem hierzulande grössten Händler für gesprochene Literatur: «Während des Lockdowns ist in unserem Onlineshop die Nachfrage nach Hörbüchern insgesamt stark gestiegen.» Und konkret: «Die Absätze haben sich in diesem Zeitraum gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt.»

Schwerpunkt ganz klar auf Belletristik

Belletristik liege insgesamt klar vorn, so Schilirò, besonders gefragt seien Kinder- und Jugendbücher. Einen Anstieg in diesem Segment erkennt auch Amadeus Gerlach, Geschäftsführer des Audio-Verlags. Und Robert Wildgruber sagt: «Besonderer Beliebtheit erfreuen sich bekannte Charaktere wie ‹Drache Kokosnuss› und ‹Harry Potter› sowie Hörbücher zur Kinderbeschäftigung in den eigenen vier Wänden.»

Und wenn Mami oder Papi mal den Kopfhörer aufsetzen, dann lassen sie sich gemäss Wildgruber gern Klassiker vorlesen, «Werke, die man offenbar schon lange auf der Wunschliste hatte und für die man endlich die Musse findet». Auch er sagt: Bis auf Blockbuster wie die Barack-Obama-Autobiografie liege der Schwerpunkt im CD-Programm ganz klar auf Belletristik.

Selbst wenn Fiktion deutlich vorn liegt, Fakten sind im Kommen. So stellt man etwa bei Orell Füssli fest, dass unter den Bestsellern immer öfter relevante Sachbuchtitel vertreten sind. Und eine Umfrage der Amazon-Tochterfirma Audible bestätigt, dass während der Corona-Zeit der Bedarf an nicht fiktionalen Sachinhalten stark gestiegen ist: So nutzte fast jeder dritte Hörer (32 Prozent) in dieser Zeit mehr Hörbücher und Podcasts aus dem Bereich Bildung und Wissen als vor Corona. 14 Prozent hörten mehr Inhalte aus der Kategorie Freizeit und Leben, zu der auch Gesundheits- und Ernährungstitel zählen.

So viel zu den Gattungen. Doch welche Titel waren während des Corona-Jahres 2020 top? Zieht man die «Spiegel»-Jahresbestsellerliste 2020 der Hörbücher in Betracht, dann sticht bei den Top Ten in der Kategorie «Belletristik/Sachbuch» vor allem ein Name ins Auge: der des Stuttgarter Kabarettisten Marc-Uwe Kling (39). Nicht weniger als sechs Titel sind aus der Feder des «Känguru»-Autors. In den Top Ten bei «Kinder/Jugend» ist die Hälfte der Plätze mit dem Kinder-Krimi-Klassiker der «Drei ???» besetzt.

Hörbuch-Downloads haben kräftig zugelegt

Der Schweizer Buchhändler- und Verlegerverband weist in seinen Bestsellerlisten Hörbücher leider nicht gesondert aus. Doch laut Orell Füssli verkauften sich während des Lockdowns hierzulande folgende Titel besonders gut: das Ratgeberbuch «Das Kind in dir muss eine Heimat finden» der deutschen Psychologin Stefanie Stahl (57), die Autobiografie «Ein verheissenes Land» des früheren US-Präsidenten Barack Obama (59), das Kinderbuch «Der Ickabog» der britischen Bestsellerautorin J. K. Rowling (55, «Harry Potter») sowie der Liebesroman «Sommer auf Schottisch» der deutschen Schriftstellerin Karin Lindberg (41).

Dass all diese Titel während der Corona-Zeit viele Neukunden fanden, belegt eine Kantar-Umfrage im Auftrag der Amazon-Tochter Audible: Der zufolge nutzten während der Pandemie fast eine Million Deutsche erstmals Hörbücher, Hörspiele oder Podcasts. Bricht man das Ergebnis auf die Schweiz runter, dann dürften hierzulande zusätzlich 100’000 Menschen ihre Ohren gespitzt haben.

Doch was heisst das für den Verkauf? Amadeus Gerlach vom Audio-Verlag zieht eine ernüchternde Bilanz: «Natürlich verkauft der Onlinehandel – insbesondere Amazon – mehr, aber er kompensiert nicht alles, was im Filialhandel aufgrund der Ladenschliessungen liegen bleibt.» Da die Buchhandlungen auch in der Schweiz lange geschlossen waren, habe der Audio-Verlag deutlich weniger physische Hörbücher verkauft.

«Das CD-Geschäft litt massiv unter den geschlossenen Verkaufsstellen», sagt auch Wildgruber von Der Hörverlag. «Auch die CD-Bestellungen über Onlineshops des Buchhandels konnten den Rückgang im physischen Vertrieb nicht kompensieren.» Allerdings bestätigen beide, dass die Downloads kräftig zulegen konnten. Beim Audio-Verlag wächst der digitale Absatz jährlich im zweistelligen Bereich, und monatlich bietet er zehn bis 30 neue Titel zum Downloaden an.

Bildschirmfreie Zeit zur Entspannung

«Der Download-Umsatz liegt inzwischen über dem mit physischen Hörbüchern», sagt Wildgruber. Auch Orell Füssli in der Schweiz verzeichnet den grössten Anstieg bei Hörbuch-Downloads. «Insgesamt ist 2020 im Vergleich zu 2019 der Anteil der Hörbuch-Downloads an allen Hörbuchabsätzen um rund 100 Prozent gestiegen», sagt Pressesprecher Schilirò. Nicht zuletzt deswegen, weil Orell Füssli seinen Kunden seit Mitte 2020 die Möglichkeit bietet, Hörbuch-Downloads auch direkt in der Filiale zu kaufen – wenn sie denn offen hatte.

Neben dem Download ist das Streaming im Kommen – vor allem über Spotify. Für die meisten Buchverlage ist dieser Vertriebsweg aber wenig lukrativ, weil die Bezahlung der Autoren sehr gering und die Auffindbarkeit von Titeln auf der Plattform schwierig ist. Offenbar auch für Spotify selbst, denn auf Anfrage nach Bestsellern im Hörbuch-Bereich schreibt man dem SonntagsBlick Magazin: «In Rücksprache muss ich Ihnen leider mitteilen, dass die angefragten Daten zu Audiobooks Spotify nicht vorliegen und daher nicht zur Verfügung gestellt werden können.»

Ob Download oder Streaming: «Die Wiedergabe über MP3 macht es Kunden einfach, zu jeder Zeit und überall Hörbücher zu hören – ganz einfach über das Smartphone», sagt Schilirò von Orell Füssli. Darin sieht Gerlach vom Audio-Verlag ein Problem. «Da während des Lockdowns die Mobilität erheblich eingeschränkt ist und die Leute weniger mit Flugzeug, Bahn und Auto unterwegs sind, sind damit auch Gelegenheiten weggefallen, Hörbücher zu hören», sagt er.

Für Oliver Daniel von Audible ist das jedoch eine Chance. «Statt auf dem Weg von und zur Arbeit zu hören, lernen nun viele, dass ein spannender Thriller oder ein inspirierender Podcast auch tolle Begleiter sind, wenn man putzt, kocht, die Wäsche macht oder Sport treibt», sagt er. Zudem habe ihre Umfrage auch gezeigt, dass zwölf Millionen Menschen in Deutschland Hörbücher, Hörspiele und Podcasts nun häufiger nutzen als vor Corona. «Gerade jetzt wird bildschirmfreie Zeit als besonders wertvoll empfunden», so Daniel.

Tatsächlich konsumieren zwei Drittel der Käuferinnen und Käufer Hörbücher zur Entspannung. Und wenn es nicht zur Entspannung ist, dann für ein gutes Gefühl: Eine Studie des renommierten University College London fand nämlich heraus, dass Hörbücher grössere emotionale Reaktionen erzeugen als das Schauen von Filmen oder Fernsehsendungen – Audible statt Netflix, «Sommer auf Schottisch» statt «Wilder» im Winter.

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