Bestseller-Autor Édouard Louis
Der Schriftsteller, der die Gelbwesten verteidigt

Frankreichs Literatur-Shootingstar kommt aus der Unterschicht. In seinem autobiografischen Werk schreibt Édouard Louis (26) über einen Teil seiner Heimat, der nicht auf Postkarten vorkommt. Im Zuge der Gilets-jaunes-Bewegung ist sein neues Buch hoch aktuell.
Publiziert: 20.01.2019 um 12:11 Uhr
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Aktualisiert: 21.01.2019 um 14:00 Uhr
Jonas Dreyfus

Er heisst eigentlich Eddy Bellegueule – und damit beginnt die beste Geschichte, die der euro­päische Literaturbetrieb in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat.

Bellegueule – das heisst übersetzt so viel wie hübsche Fresse. Ein Name so grob wie das Umfeld, aus dem sein Träger stammt. Kombiniert mit dem kurzen «Eddy» … mehr nach Arbeiterklasse kann ein Name in Frankreich offenbar nicht schreien. Um sein altes Ich hinter sich zu lassen, taufte sich Eddy mit der schönen Fresse zu Édouard Louis um.

Der 26-Jährige ist heute einer der bekanntesten Schriftsteller und wichtigsten Intellektuellen Frankreichs. Seine autobiogra­fischen Bücher erscheinen in 30 Ländern. Bereits das ­Debüt, das bei uns mit dem Titel «Das Ende von Eddy» erschien, lan­dete international in den Best­sellerlisten. Es beginnt mit dem Satz: «An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung.»

Édouard Louis kommt aus demselben Frankreich wie die Gilets jaunes.
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Die nordfranzösische Provinz, in der Louis aufwuchs, hat er längst in Richtung Paris verlassen. Doch das verarmte Milieu, dem er entfloh, liefert ihm bis heute literarischen Stoff. Wenn Eddy Bellegueule keine so beschissene Kindheit und Jugend gehabt hätte, um beim Jargon seines damaligen Umfelds zu bleiben, hätte Édouard Louis ­heute keine so grandiose Kar­riere. Das lässt sich jedenfalls vermuten.

Sicher ist: Mit seiner sozial­kritischen Haltung und dem Vorwurf, Frankreich sei eine Zweiklassengesellschaft, trifft er den Nerv der Zeit. Seit er sich als erster französischer Intellektueller öffentlich mit den Gelbwesten solidarisierte, den Gilets jaunes, ist sein Bekanntheitsgrad nochmals rasant gestiegen. Böse formuliert könnten die anhaltenden Proteste der Gelbwesten, die mit einer angekündigten Erhöhung des Benzinpreises begannen, eine Werbekampagne für Louis’ jüngsten Roman sein.

Verroht durch soziale Ungerechtigkeit

«Wer hat meinen Vater umgebracht» (S. Fischer) erscheint bei uns am 23. Januar, am 7. Feb­ruar liest der Autor im Zürcher Kaufleuten vor. Im Roman geht es, wie der Titel andeutet, um Louis’ Vater – einen verrohten Mann, der seinem homosexuellen Sohn das Leben zur Hölle machte. ­Lou­is kommt rückblickend zur Erkenntnis, dass sein Vater erst durch die soziale Ungerech­tigkeit in einer Welt, die für ­Menschen aus der Unterschicht keinen Platz hat, zu einem ver­bitterten, herzlosen Menschen wurde. Einer, der zwar noch lebt, aber eigentlich schon tot ist.

Das kurze, ergreifende Werk ­endet mit einer Erinnerung von Louis an etwas, das sein Vater jüngst zu ihm gesagt hat: «Ich glaube, was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution.»

Louis wächst im Norden ­Frankreichs in ­einem Dorf in der ­Picardie auf, einer der ärmsten Gegenden des Landes. Die einst flo­rierende ­Industrie ist in ­Niedriglohnländer verlegt worden, Tausende Arbeitsplätze fielen der Globa­li­sierung und Digita­lisierung zum Opfer. Frauen, die hier noch einen Job haben, sitzen im Supermarkt an der Kasse. Männer schuften in der letzten Fabrik der ehemaligen Hochburg für Metall- und Maschinenbau, die noch in Betrieb ist.

Louis ist acht Jahre alt, als sein Vater ­einen schweren Arbeitsunfall hat. Eine Last fällt auf ihn und verletzt seine Wirbel­säule. Mehrere Jahre kann er nicht mehr gehen, danach nur noch mit Mühe.

Eine Art «Bienvenue chez les Ch’tis» – bloss ohne Humor

Sein Sohn erinnert sich im Buch an das ­Ereignis, als es für seine ­Familie genauso bergab geht wie mit dem französischen Sozialstaat. Bald deckt die Versicherung die teuren Medikamente nicht mehr, die sein Vater benötigt. Weil er seine Sozialhilfe sonst verlieren würde, wird er Strassenfeger in der Stadt, während seine Frau sich auf dem Land um die Kinder küm­mert. «Für 700 Euro im Monat musstest du dich den ganzen Tag bücken, um den Abfall der anderen aufzusammeln, musstest ­buckeln trotz ­deiner ruinierten Wirbelsäule», schreibt Louis.

In seiner Stellungnahme zu den Gelbwesten – von der «Zeit» ins Deutsche übersetzt – beschreibt er, wie sehr ihn die ­Demonstrierenden mit ihren «von der Müdigkeit und der Arbeit, vom Hunger, von der andauernden Demütigung durch die Herrschenden» gezeichneten Körpern, Gesichtern und Händen an seine Familienmitglieder erinnern. «Jeder, der eine Gelbweste beleidigte, beleidigte meinen Vater.»

Die Missstände in den von nordafrikanischen Einwanderern geprägten Vorstädten der Metropolen, den Banlieues, sind uns längst ein Begriff. Wenn Jugendliche dort bei Auseinandersetzungen mit der Polizei Autos in Brand setzen, gehen Bilder davon um die Welt. Filme wie «La Haine» («Der Hass») beschäftigen sich mit der urbanen Welt der Sozialbauten genauso, wie der britische Regisseur Ken Loach in seinen Filmen der nordenglischen Arbeiterklasse ein Gesicht gibt. Die Welt, in der Louis aufwächst, war bisher ein blinder Fleck in unserer Wahr­nehmung. Eine Art «Bienvenue chez les Ch’tis» – nur ohne Humor.

Häusliche Gewalt und Alkohol sind an der Tagesordnung. Louis wird in kleinen, von Zigarettenrauch vernebelten Räumen gross. Zerbrochene Fensterscheiben werden hier schon einmal dauerhaft durch Karton ersetzt. Ende Monat gibt es als «Abendessen» manchmal nur noch Milch. Wenn Louis nach Hause kommt, sitzt sein Vater mit seinen Kumpeln trinkend vor dem Fernseher und macht sich vor versammelter Mannschaft über die «schwuchtelige» Art seines leicht feminin wirkenden Sohnes lustig.

Während eines ausgearteten Dorffests will Louis’ drogen- und alkoholabhängiger Bruder ihn einmal im Tobsuchtsrausch zu Tode prügeln. Seine Mutter sperrt den kleinen Eddy ein, um ihn zu schützen. Eine Mutter, die sagt, Schwule und Ausländer gehörten in ein Konzentrationslager. Eine Mutter, die sich von niemandem verstanden fühlt ausser von Ma­rine Le Pen, der Chefin der rechtsextremen Partei Rassemblement National, ehemals Front National.

«Ich bin vielleicht eher eine Frau als Marine Le Pen»

Dass sich Louis für seine Familie starkmacht, ist schwierig nach­zuvollziehen. Im soziologischen ­Sinne habe er Verständnis dafür, dass seine Eltern die Rechtsextremen wählen, sagte er in ­einem ­Interview. «Auch wenn der Front Na­tional alles ­verachtet, was ich als linker Homo­sexueller bin.»

Ähnlich wie bei Donald Trump wird Le Pen laut Louis von denen gewählt, die sich vom ­sogenannten Establishment vergessen oder verraten fühlen. Es ist derselbe Mechanismus, der die Gelbwesten den aktuellen Präsi­denten Frankreichs, Emmanuel Macron, hassen lässt. Sie da­rauf zu reduzieren, Rassisten zu sein, sei unfair, sagt Louis, und ein Mittel der herrschenden Klasse, die Armen zu diffa­mieren.

Man kann Louis vieles vorwerfen: Dass er sich zum Sprecher eines ­Milieus macht, zu dem er längst nicht mehr gehört. Dass er manchmal genauso schwarz-weiss ­argumentiert wie die­jenigen, die er zu seinen Gegnern erklärt.

Was man ihm nicht vorwerfen kann, ist, dass er keinen Mut hat. In einer Zeit, in der ­machoide Popu­listen alle über­schreien, plädiert ­Louis für eine Abkehr von dem, was er als «traditionelle harte Männlichkeit» oder «Männlichkeitswahn der Rechten» bezeichnet, und sagt Dinge wie: «Ich bin vielleicht eher eine Frau als Ma­rine Le Pen.» Vielleicht ist es das, was Louis ausmacht: Dass er sich nicht schämt, zu seinen ­Gefühlen zu stehen. Zyniker sind dagegen machtlos. Kein Wunder traute sich bis jetzt fast niemand, dem Jungstar Paroli zu bieten.

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