Übermotivierte Trainer, verzweifelte Eltern
Unsere Kinder verlieren die Freude am Sport

Nicht nur Kinder und Jugendliche im Hochleistungssport, auch viele andere stehen in der Freizeit unter Druck. Schuld ist ein auf Erfolg fixiertes Leistungssystem.
Publiziert: 30.04.2022 um 16:52 Uhr
|
Aktualisiert: 02.05.2022 um 10:27 Uhr
Silvia Tschui (Text), Birgit Lang (Illustration)

Wir möchten Ihnen Noah vorstellen: Noah ist neun Jahre alt und lebt in einer der grösseren Schweizer Städte. Er heisst eigentlich anders, aber seine Familie will nicht mit Namen in der Zeitung stehen. Noah spielt sehr gerne Fussball. Mit Kollegen in der Pause, nach der Schule und mit den Nachbarskindern – auch wenn er, wie er selber sagt, nicht so der Chef ist im Fussball. Seiner Begeisterung tut das keinen Abbruch. Bis er in einem Verein anfängt – das treibt ihm das Fussballspielen gehörig aus. Denn der ehrenamtlich agierende Trainer, der in der Mannschaft auch seinen eigenen Sohn trainiert, hat grosse Pläne. Es handelt sich zwar um eine B-Mannschaft, viele haben erst gerade angefangen, aber, so betont gemäss den Eltern der Trainer immer wieder: «Der Traum vom Profifussballer ist immer noch möglich!»

Noah, der einfach nur Spass am Spielen haben möchte, erklärt zu Hause, dass ein paar Kinder in seiner B-Mannschaft Profis werden wollen. Deshalb müssten nun alle viel mehr trainieren. Zwei Mal pro Woche abends plus jedes Wochenende Match reicht dem Trainer nicht. In den Ferien soll man mindestens eine Woche, in den Sommerferien besser drei Wochen dableiben, damit die Kinder jeden Tag trainieren können. Unter der Woche richtet der Trainer ein «freiwilliges» drittes Zusatztraining ein. Wer nicht kommen will oder kann, könne ja dann in die C-Mannschaft wechseln. Überhaupt hängt der Wechsel in die C-Mannschaft, in welche der Trainer, wie er neben dem Spielfeld in Hörweite der Kinder sagt, die «Idioten» abstufen würde, wie ein Damoklesschwert über Noah. Man darf kein Training verpassen, sonst droht der Abstieg. Man muss jeden Match spielen, sonst droht ebenfalls der Abstieg.

Man möchte nur zwei Mal und nicht drei Mal pro Woche trainieren, weil man auf Wunsch der Eltern auch noch ein Instrument spielt und mal abmachen will: Man gehört zu den «Idioten». Die Eltern intervenieren beim Trainer, weisen darauf hin, dass es sich doch um eine B-Mannschaft handle und ob nicht einfach Spiel und Spass im Vordergrund stehen sollten? Sie stossen auf taube Ohren: «Das ist nicht mehr Kindergarten, hier geht es um Leistung!», soll der Trainer gesagt haben. Und weil Noah nicht drei Mal die Woche trainieren, aber auch nicht zu den «Idioten» gehören will, hört er nach vielen Tränen ganz auf.

Detaillierter Ernährungsplan war zu viel

Oder nehmen wir, um vom Fussball abzuweichen, Sophie. Auch sie heisst eigentlich anders. Sophie ist dreizehn Jahre alt und stammt aus einem ländlich geprägten Kanton. Sophie schwimmt fürs Leben gern. Ein Angebot fürs Plauschschwimmen in ihrer Freizeit gibt es in ihrer Umgebung nicht, der nächstgelegene Schwimmverein bietet nur Leistungsschwimmen an. Also geht Sophie mit elf ins Leistungsschwimmen. Sie ist ohne grossen Effort von Anfang an richtig gut, gewinnt ein paar Wettkämpfe.

Der Trainer leckt Blut: Auch Sophie hat bald drei Mal pro Woche Training. Der Trainer wünscht, dass sie auch am freien Mittwochnachmittag selbständig trainiert; am liebsten wäre ihm, sie wäre sechsmal die Woche ein bis eineinhalb Stunden im Wasser. Natürlich neben der Schule. Am Wochenende stehen Wettkämpfe an. Leistung, Leistung, Leistung. Als der Trainer einen detaillierten Ernährungsplan vorlegt, der bis aufs Gramm regelt, was Sophie täglich – nicht nur vor und nach dem Training – zu essen hat, reichts sowohl Sophie als auch den Eltern. Sophie geht jetzt nicht mehr ins Leistungsschwimmen.

Für jede Lara Gut-Behrami, für jede Ariella Kaeslin und für jeden Breel Embolo gibt es Tausende von sportbegeisterten Menschen, die weder das Talent dafür noch den Ehrgeiz haben, Spitzensportler zu werden. Dasselbe gilt natürlich auch für Kinder und Jugendliche. Während nun aber die Missstände, denen Kinder mit Spitzensport-Potenzial und Ambitionen etwa in Magglingen über Jahre ausgesetzt waren oder noch sind, in letzter Zeit thematisiert wurden, geht vergessen: Auch für «durchschnittliche» oder vielleicht sogar unterdurchschnittlich begabte Kinder wie Noah oder nicht überaus ehrgeizige wie Sophie, die einfach nur Freude an der Bewegung oder einem Mannschaftssport haben, ist heutzutage der Leistungsdruck im Sport manchmal immens. Noah und Sophie sind keine Einzelbeispiele. Das zeigen ein Aufruf, den wir auf Social Media gestartet haben, wie auch Befragungen im Umfeld. Wir wollten von Eltern wissen, ob und weshalb ihre Kinder wieder aus einem Verein ausgestiegen seien.

Aussortiert, weil er zu schlecht spielte

Auf den Aufruf unseres Social-Media-Teams hin haben sich über ein Dutzend Eltern gemeldet, über einen privaten Aufruf gleich nochmals so viele. Kein Elternteil möchte aber den Namen seines Kindes in der Zeitung sehen: Sie haben Angst, ihre Kinder würden dann gehänselt. Den Kindern, deren Eltern uns schrieben, geht es allen ähnlich: Sie sind wieder aus Vereinen, oftmals im Fussball, ausgetreten, weil der Druck einfach zu hoch war – oder weil sie knallhart aussortiert wurden, weil sie zu schlecht waren. So etwa Fiton, acht Jahre alt, der in jeder Minute Fussball gespielt hat. In den Verein durfte er nach ein paar Mal Probetraining nicht, er war zu schlecht. Für Fiton fiel eine Welt zusammen, sagt sein Vater, er habe sich wochenlang geschämt. Wenn er zufälligerweise genau dann beim Sportplatz vorbeikommt, wenn seine Kollegen trainieren, beginnt er regelmässig zu weinen. In der Schule traut er sich seither nicht mehr mitzuspielen, wenn die anderen in der Pause kicken, und steht oft allein herum.

Vieles, was Sport betrifft, läuft in der Schweiz ehrenamtlich, da es auf Vereinsebene angeboten wird. Allein für Fussball gibt es in der Deutschschweiz rund 800 Vereine, in der gesamten Schweiz sind es 1450. Über 58'000 Jugendliche im Alter von 10 bis 14 spielen in diesen Vereinen Fussball – und diese sind wiederum, insbesondere auf den Nicht-Profi-Stufen, auf ehrenamtlich agierende Trainer angewiesen. Manchmal sind das Eltern, die ihre Kinder in der Sportart trainieren, in der sie selbst einst reüssierten – oder reüssieren wollten.

Sich zu messen, liegt auch in der Natur des Menschen

Der Verdacht liegt nahe, dass die Motivation solcher Elterntrainer manchmal auch darin liegt, ihren Kindern den Traum zu ermöglichen, der ihnen selbst verwehrt wurde. Das bestätigt auch der Co-Leiter des Schulpsychologischen Dienstes Basel-Stadt, Basil Eckert: «Während es hierzu keinerlei Daten oder Erhebungen gibt, stimmt der subjektive Eindruck wohl – wer mit Kindern und Sport zu tun hat, dem ist höchstwahrscheinlich auch schon einmal ein solcher Trainer oder eine solche Trainerin begegnet.» Eckert wie auch Steve Beutler, Leiter des Sportamts Basel-Stadt, das kantonale und städtische Anliegen vertritt, wollen aber die Arbeit der Vereine keineswegs herabgewürdigt sehen. «Vereine unter Generalverdacht zu stellen, weil sie zu viel Druck ausüben würden, scheint mir verfehlt», sagt Beutler, «Vereine leisten sehr wichtige Arbeit.» Und es liege zu einem gewissen Grad auch in der Natur des Menschen, sich messen zu wollen.

Der Druck kommt denn auch nicht nur von einzelnen Trainern. Wer je als Mutter, Vater oder Grosselternteil am Rande eines Fussballfelds gestanden hat, wo Kinder einen Match spielen, weiss: Es gibt auch zur Genüge Eltern, die am Spielfeldrand herumschreien, was ihr Kind genau zu tun habe – und der Ton ist oftmals nicht besonders angenehm. Eckert sieht denn auch ein gesamtgesellschaftliches Problem, von dem der Druck auf Freizeitaktivitäten nur ein Teil einer grösseren Misere für so manches Kind und so manchen Jugendlichen ist. «Der Leistungsdruck, der teilweise auf unseren Kindern lastet, ist enorm», sagt Eckert. «Wir befinden uns alle zunehmend in einer Leistungsgesellschaft, deren Druck sich leider auch auf Kinder und Jugendliche und auf ihre Freizeit niederschlägt.»

Freies Spiel wäre wichtig

Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist dies für Kinder und Jugendliche aber geradezu kontraproduktiv. Statt eines geführten Trainings wäre freies Spiel für die Hirnentwicklung viel wichtiger, sagen sowohl Eckert wie auch andere Experten, etwa Spielpädagogin Susanne Stöcklin-Meier oder die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm. Die Experten vertreten gut belegte Fakten aus der Hirnforschung: In der freien Interaktion mit anderen lernt sich nicht nur spielerisch vieles, es bilden sich auch Schaltkreise für Kreativität im Hirn. Soziale Interaktionen machen Spass, freies Spiel, generell freie Zeit, ermöglicht erst Lerneffekte – und sorgt auch für psychisches und emotionales Wohlbefinden. «Was oft vergessen geht», sagt Eckert, «ist auch, dass das Hirn Ruhepausen braucht, um Dinge abzuspeichern und zu verarbeiten. Erst so entstehen die neuronalen Verbindungen, die neue Inhalte und Fertigkeiten festigen und sichern.»

Lernen und späterer Erfolg gehen also zu einem grossen Teil mit Spass, sozialer Interaktion und genügend freier Zeit einher. Druck behindert Lernen hingegen aktiv: Wenn der Stresspegel steigt, sind die Regionen im Hirn, die aktiv denken, blockiert. Das zeigen Hirnstrommessungen in unzähligen Studien.

Dass der Druck, der seitens gesellschaftlicher Erwartungen auf Kindern und Jugendlichen lastet, für viele zu gross und die Freiräume zu klein sind, ist keine Behauptung, sondern Fakt. Abzulesen ist dies an der Anzahl psychischer Erkrankungen von Jugendlichen. Durch die Corona-Pandemie hat dies zusätzlich an Brisanz gewonnen – zahlreiche Schweizer Medien berichteten in den letzten Monaten vom Notstand in der Jugendpsychiatrie. Es fehlen Plätze und Personal, Kinder mit extremer Magersucht finden etwa keine Hilfe, solange sie nicht unter akut lebensbedrohlichen Mängeln leiden. Je nach Studie ist es mittlerweile ein Zehntel bis zu einem Fünftel aller Jugendlichen, die an Depressionen, Essstörungen, Schlafstörungen, Angststörungen wie Panikattacken oder an Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressionen leiden. Das sei aber nicht nur pandemiebedingt, sagt Eckert: «Auch schon vor der Pandemie sind die Zahlen kontinuierlich angestiegen.»

Niederschwellige Angebote wären wichtig

Trotzdem: Sport respektive Bewegung gehören zu einer gesunden Entwicklung von Kindern und Jugendlichen dazu. «Rund ein bis eineinhalb Stunden Bewegung pro Tag zusätzlich zu den Alltagsaktivitäten wären für eine gesunde Entwicklung ideal», sagt Beutler. Wichtig wären gemäss Eckert aber vor allem sogenannte «niederschwellige», Angebote. Also Orte, an denen Kinder und Jugendliche sich treffen und sportlich betätigen können, ohne angeleitet oder gemessen oder beurteilt zu werden. Zum Beispiel Orte, die sich fürs Skaten oder die Geschicklichkeit mit dem Velo eignen. Zumindest im Raum Basel ist die Notwendigkeit für solche Angebote bekannt. «Wir haben heute bereits verschiedene niederschwellige Angebote in Basel. Auf Basis eines sich in Bearbeitung befindenden Konzepts sollen diese Angebote ausgebaut werden», sagt Beutler. «Dafür ist natürlich auch das entsprechende Budget notwendig, welches der Grosse Rat zu genehmigen hat.»

Was nun aber aus Elternsicht tun? «Als Eltern gilt es, auf Kinder zu hören, wenn sie sagen, dass sie mit einem Hobby aufhören wollen», sagt Eckert. Auch wenn das oft mit Enttäuschungen seitens der Eltern verbunden sei. So sagt etwa Sophies Mutter, sie habe eine Zeit lang damit gehadert, dass Sophie aufhören wolle: «Auch wenn ich mir bewusst war, dass der Trainer viel Druck aufbaut und mich das selber immer wieder geärgert hat, hat es mich trotzdem froh gemacht zu sehen, dass Sophie so gut in etwas war. Und man investiert als Eltern ja auch viel Zeit, etwa für Fahrdienste an die Wettkämpfe. Auch emotional investiert man viel.» Eckert sagt aber hierzu klar: «Viel wichtiger, als das Kind aus Elternsicht zu fördern, ist es, Raum für die sogenannte intrinsische Motivation zu geben», also einem Kind oder Jugendlichen zu ermöglichen, überhaupt herauszufinden, wo seine Interessen liegen. «Das gelingt nicht, wenn ein grosser Teil der Freizeit mit Vereinsaktivitäten und Musikunterricht verplant ist.» Weniger ist also für Noah, Sophie und wohl auch für Fiton definitiv mehr.


Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?