Notwendigkeit, Macht, Lifestyle
So hat sich unsere Esskultur gewandelt

Was uns heute als selbstverständlich erscheint, war früher oft ganz anders. Das ist auch beim Essen so. Ein Blick zurück auf verpönte Gabeln, Essen als Machtdemonstration und die Wunder der Kartoffel.
Publiziert: 23.02.2020 um 22:20 Uhr
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Aktualisiert: 03.09.2020 um 14:00 Uhr
In der Antike war Essen ein Zeichen der Macht: Hier bei einer Orgie im alten Rom.
Foto: Universal Images Group via Getty Images
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Valentin Rubin

Essen bestimmt, wie wir sind. Nicht nur, ob dick oder dünn. Es beeinflusst unser Sein und unser Verhalten. Dabei war Essen über Jahrtausende vor allem eines: Notwendigkeit. Ein Mittel zum Zweck. In der Steinzeit assen alle dasselbe. Wichtig war, satt zu werden.

Als zelebrierter Genuss – und damit als Zeichen der Macht – taucht Essen erstmals in der Antike auf. Allerdings nur bei der Oberschicht. Im römischen Kaiserreich lagen sich die Herrschenden grazil beim Essen gegenüber, schlugen sich die Bäuche mit Eiern, Käse, Honig oder Kaninchenschulter voll. Die Unterschicht stritt sich um Getreidebrei und hungerte.

Getreidegrütze hier, Fasanenbraten da

Dieser kulinarische Graben zwischen Arm und Reich zieht sich bis in die Neuzeit. Die Unterschicht musste sich mit Getreidegrütze begnügen und hatte höchstens zu Festtagen einmal Fleisch – dann vor allem gekochte Füsse oder Innereien. Gebratenes Wildfleisch, Fasanenbraten oder gar Nudeln waren der Oberschicht vorbehalten.

Für alle Bevölkerungsschichten galt jedoch: Getreide war zentral. Vom 8. bis zum 11. Jahrhundert vergrösserte sich in Europa der Getreideanteil an der Gesamternährung von 30 auf knapp 75 Prozent.

Wohlstand ja, Tischsitten nein

Die Adeligen assen zwar nobel, gesittet ging es aber auch bei ihnen nicht zu und her. Römische Orgien nahmen exzessive Ausmasse an: Gegessen wurde, bis man sich erbrach. Und Besteck war noch im Mittelalter teilweise verpönt. Die Meinung, Gabeln erinnerten mit ihren Zacken an den Teufel, hielt sich lange.

Waren die Zutaten für die Gerichte bei den einfachen Leuten begrenzt, stand vielmehr das Zusammensein im Zentrum – der Küchentisch als Rückzugsort. Susanne Vögeli, Rezeptentwicklerin aus Aarau, spricht von «psychischen Zutaten». Gemeinschaft und familiärer Austausch seien mindestens genauso wichtig gewesen.

Dies zeigt sich exemplarisch im «Fülscher Kochbuch». 1923 erschien die erste Auflage, Vögeli hat das Buch 2013 neu aufgelegt. Es gilt als Standardwerk der Schweizer Küche. Fast alle der über 1700 Rezepte sind für sechs Personen gedacht – alleine zu essen, war selbst im 20. Jahrhundert noch für viele undenkbar.

Weniger Kochen, mehr alternative Ernährung

Heute sieht das anders aus. Unsere Arbeit bestimme unsere Freizeit immer mehr, so Vögeli. «Die Tendenz geht klar in Richtung weniger Kochen.» Dabei gehe Wissen verloren: «Aus der Kartoffel machte man früher vielfältige Gerichte, heute verschwindet das mehr und mehr», meint Vögeli. Kartoffelpfluder, gefüllte Kartoffeln, Kartoffelpudding oder Kartoffelkuchen kennt heute kaum mehr jemand.

Dafür wird die Esskultur vielfältiger. Alternative Ernährungen geniessen grosse Beliebheit. Ein Zeichen des Wohlstands? Vögeli: «Wir können heute alles zu jeder Zeit einkaufen. Das hat sich im Vergleich zu früher sehr stark verändert.»

Immerhin: Mit einer der neuen Ernährungsweisen, der sogenannten Paläodiät, versuchen wir uns auf die Steinzeit zurückzubesinnen. Von den einen belächelt, von anderen hochgelobt, zeigt «Paläo»: Essen ist nicht mehr Notwendigkeit und auch nicht mehr Macht. Essen ist zum Lifestyle geworden.

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